Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 2

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Zweites Kapitel. Geschichte der Klavier-Virtuosität.

[Die Zwischenüberschriften des Kapitels wurden der Übersichtlichkeit halber hinzugefügt. Sie sind im Originaltext nicht vorhanden.]

Die ältere Klaviervirtuosität (bis zu den Bach-Söhnen)

<15> Der geschichtliche Ueberblick über die Entwicklung des Klavierspiels hat sich an die großen Meister des letzteren anzulehnen, welche in Spiel und Komposition Bahn und Richtung angaben, in welche die Allgemeinheit der Zeitgenossen einschlagen mußte, weil das Vorbild der Lehrer maßgebend für die Nacheifernden ist. An die Geschichte der praktischen Seite des Klavierspiels, wie es sich an dem persönlichen Beispiel der Meister zeigt, wird sich eine historische Uebersicht der schriftlich niedergelegten Methoden der Klavierbehandlung anreihen müssen. Die Geschichte der Praxis und der <16> Theorie gehören naturgemäß zusammen, wo es sich um Vergegenwärtigung des historischen Bildes handelt.

Die Geschichte der praktischen Seite älterer Zeit hat ihre namhaften Schwierigkeiten. Erstens wird von den Zeitgenossen wenig mehr als Allgemeines, und selbst dieses in nicht immer klarer Verständlichkeit über die Spielweisen der Meister berichtet; zweitens ist ihrem Urtheile insofern nur eine relative Gültigkeit beizumessen, als die ältere Zeit offenbar dasselbe von einem ganz anderen Standpunkte aus fällen mußte, als die unsere. Wo etwas Neues sich Bahn bricht, wird die Wirkung die Ruhe des objectiven Urtheils immer mehr oder weniger beeinträchtigen; nur von dem Höhepunkte einer in sich abgeschlossenen Entwickelung kann solch Urtheil Vertrauen und Anerkennung beanspruchen. Gleichwohl wird es immerhin feststehen, daß die geistige Seite eher ihr Recht erfahren mußte, vielleicht sogar noch zu wenig hervorgehoben sein dürfte, wenn man bedenkt, daß selbst bei der heutigen Bildung nur eine allmählich wachsende Reife in das Verständniß eines Bach und Beethoven eindringt. Die technische Seite ist aber gewiß überschätzt worden, indem einestheils die Instrumente älterer Zeit dieselbe nur einseitig anregen konnten, andererseits von den Berichterstattern auf Dinge Gewicht gelegt wird, die heutzutage zu den selbstverständlichen elementaren Bedürfnissen gehören.

Günstiger stellt sich natürlich die Geschichte der neueren Zeit, indem theils die eigene Anschauung den schnellen Prozeß der Entwickelung verfolgen durfte, theils mündliche Ueberlieferungen zu ihrer Berichtigung und Ergänzung das Nöthige beitragen konnten.

Ausser den beiden zuletzt genannten Quellen sind im Ganzen für die Darstellung des nachfolgenden historischen Bildes noch benutzt worden: Gerber's Lexikon der Tonknstler; Forkel: Ueber Johann Sebastian Bach's Leben, Kunst und Kunstwerke; Otto Jahn: W. A. Mozart IV. Theil; Brendel: Geschichte der Musik; Marx: <17> Beethoven; die Klavierschule von Adam, Kalkbrenner, Hummel, Czerny, und für die letztere Zeit noch das übereinstimmende Resultat schriftlicher Berichte.

Die eigentliche Virtuosität beginnt mit Domenico Scarlatti und Johann Sebastian Bach (jener geb. 1683, dieser 1685). So interessant es wäre, die historischen Notizen auf die Virtuosen vorhergehender Zeit zu erstrecken. So verlangt der ästhetische Zweck doch in der Ausdehnung des geschichtlichen Bildes eine gewisse Beschränkung. Es giebt einen Punkt, wo historische und ästhetische Erkenntniß verschiedene Interessen verfolgen, und für die letztere ist es von wenig Nutzen, auf die große Zahl der vorbachischen Pianisten einzugehen, die ihr Instrument in einer uns heute noch unvollkommen erscheinenden Weise behandelten.

Von Scarlatti wird nur Allgemeines berichtet. Er wird der größte Klaviriste seiner Zeit genannt. Ohne Zweifel war aber auch Händel ein bedeutender Spieler, obwohl er nicht so nachdrücklich hervorgehoben wird. Genauere Notizen über die Klavierbehandlung Beider fehlen. Es läßt sich aus den Werken derselben nur vermuthen (wie es auch Jahn thut IV. S. 5), daß sie hinsichtlich der Fingersetzung dem Fortschritte Bach's schon sehr nahe gestanden haben.

Ueber den letzteren wird uns Genaueres überliefert. Johann Sebastian Bach wird der größte Klavierspieler seiner Zeit, vielleicht auch der künftigen Zeiten genannt. Hauptcharakter seines Spiels soll der höchste Grad von Deutlichkeit im Anschlage gewesen sein. Derselbe wurde durch folgende Methode erreicht. Bach hielt die fünf Finger so gebogen, daß die Spitzen derselben in eine gerade Linie kamen, und jeder Finger über seiner Taste, anschlagsbereit, in dieser Stellung schwebte. Mit dieser Lage der Hand soll (nach Forkel) verbunden sein, daß kein Finger auf die Taste fällt, oder geworfen wird, sondern nur mit einem gewissen Gefühl innerer Kraft und Herrschaft über die Bewegung getragen werden darf. Die so <18> auf die Tasten getragene Kraft oder das Maaß des Drucks muß in gleicher Stärke unterhalten werden, und zwar so, daß der Finger nicht gerade aufwärts von der Taste gehoben wird, sondern durch allmäliges Zurückziehen der Fingerspitzen nach der inneren Fläche der Hand auf dem vorderen Theil der Taste abgleitet. Beim Uebergange von einer Taste zur anderen wird durch dieses Abgleiten das Maaß von Kraft oder Druck, das der erste Ton hatte, in der größten Geschwindigkeit auf den nächsten Finger geworfen. Diese Manier, aus welcher Forkel die große Anschlagsdeutlichkeit Bach's zu erklären sucht, steht allerdings in direktem Gegensatz zur neueren Zeit, welche das Prinzip des Anschlags aus der Bewegung des ganzen Fingers und nicht der Fingerspitze allein, wie bei Bach, herleitet, auf deutliches Aufheben hält, und das Einziehen der Fingerspitze nur in gewissen Fällen gestattet. Es kann nur aus der leichten Spielweise damaliger Instrumente erklärt werden, wenn ferner berichtet wird, daß Bach mit einer so leichten und kleinen Bewegung der Finger spielte, daß man sie kaum bemerken konnte. Nur die vorderen Gelenke der Finger waren in Bewegung, die Hand behielt auch bei den schwersten Stellen ihre gerundete Form, und die Finger hoben sich nur wenig von den Tasten auf, fast nicht mehr als bei Trillerbewegungen. Alle übrigen Körpertheile blieben in vollkommenster Ruhe. Hierzu kam bei Bach die vollkommenste Gleicheit in der Ausbildung aller Finger. Jeder hatte dieselbe Stärke und Brauchbarkeit, so daß Doppelgriffe und Läufe, einfache und Doppeltriller, selbst Triller mit hinzugefügter Melodie in derselben Hand mit gleicher Leichtigkeit ausgeführt wurden.

Besonderes Gewicht wird auf die neue Fingersetzung Bachs gelegt. Bei der älteren gebundenen Stimmung des Klaviers wurde mehr harmonisch als melodisch und nicht in allen 24 Tonarten gespielt. Daher soll es gekommen sein, daß die damaligen größten <19> Spieler, Couperin nicht ausgenommen, den Daumen selten, fast nur bei Spannungen anwendeten. Bach änderte vermöge des polyphonen Geistes seiner Compositionen dieses Verhältniß, vermischte das diatonische und chromatische Klanggeschlecht, und lernte sein Instrument so zu temperiren, daß es in allen 24 Tonarten rein gespielt werden konnte. Die große Mannigfaltigkeit in dem Figurenwesen seiner Kompositionen hatte zur Folge, daß Bach keine Schwierigkeit kannte, und weder im freien Phantasiren noch beim Spiel seiner Werke je einen Ton verfehlte.

Sein Lieblingsinstrument war das Clavichord. Die Flügel waren ihm zu seelenlos (hierbei sind ohne Zweifel die mit Federkielen versehenen Instrumente [Cembali] zu verstehen) und das Pianoforte noch zu sehr in seiner ersten Entstehung und zu plump, als daß es ihm genügen konnte. Er hielt das Clavichord für das beste Instrument zum Studiren, sowie zur musikalischen Privatunterhaltung. Er fand es für den Vortrag der feinsten Nüancirungen und Gedanken geeigneter, und trotz seiner Tonarmuth dankbarer, als die genannten Instrumente.

Seine freien Phantasien sollen in der Art der chromatischen Phantasie gewesen sein, dieselbe häufig aber noch an Glanz, Ausdruck und vermehrter Freiheit übertroffen haben. Die Tempi nahm er sehr lebhaft beim Vortrage seiner Stücke, und gestaltete den letzteren so mannigfach, daß der Ausdruck einer Rede erreicht wurde. Starke Affekte drückte er nicht durch äußere Mittel der Kraft, sondern durch das innerliche Kunstmittel harmonischer und melodischer Figuration aus.

Nächst Joh. Seb. Bach werden dessen Söhne W. Friedemann und K. Philipp Emanuel zu den bedeutendsten Klavierspielern damaliger Zeit gerechnet, von denen der erstere durch phantastische Gedankenfülle und einen zierlich feinen Vortrag, der zweite durch Glanz bei nicht so ausgeprägter Inhaltlichkeit ausgezeichnet <20> gewesen sein soll. Bekannt ist, wie das Talent des Ersteren infolge äußerlicher Umstände nicht zu hervortretender Wirksamkeit gelangte, und die nähere Charakteristik K. Philipp Emanuel's wird im folgenden Kapitel bei Erwähnung seines Lehrbuches zur Ausführung gelangen. Der technische Standpunkt war bei beiden der ihres Vaters, obwohl der letztere als der größere Meister bezeichnet wird.

Will man die Geschichte der Virtuosität in Epochen theilen, so könnte sich hier die erste abschließen. Bezeichnet ist sie technischerseits durch die zum ersten Male auftretende vollständige Erkenntniß der organischen Natur der Hand, welche sich im ersten Entwurfe künstlerisch gestaltet und ihre wesentlichen Fähigkeiten ausbildet. Sie stellt das Prinzip auf, nach welchem von nun an die Entwickelung in naturgemäßem und methodischem Fortschritte weitergehen konnte. Geistigerseits wird die Epoche durch tiefsinnig religiösen, aber einseitigen Spiritualismus charakterisirt, welcher in Friedemann Bach nach schwärmerischer Romantik, in Philipp Emanuel nach glänzenderer Unterhaltung hin eine Abweichung erleidet. Die auf eng zusammengefügter Textur beruhende Form hält auch die Phantasie in einseitg religiösem Inhalte befangen und kann den spiritualistischen Grundcharakter selbst da nichtverleugnen, wo sie weltliche Stoffe zum Thema nimmt. Dafür erreicht sie aber in dieser Einseitigkeit den höchsten Ausdruck und giebt das Bild religiösen Entzückens und einer ahnungsreich alle Theile des Seelenlebens durchglühenden Andacht in geistreicher Weise. Inmitten der genannten Einseitigkeit entfaltet sich die größte Vielseitigkeit. Der Geist hat sich mit aller Kraft und in seinem ganzen Umfange auf einen Inhalt geworfen und weiß ihm bei ein und demsleben Style die möglichste Mannigfaltigkeit der Form zu geben. Neben der oben erwähnten enggefügten Plastik der Form entfaltet sich seltsamer Weise bei Seb. Bach als Gegensatz eine Form freien lyrischen Hinträumens, <21> z. B. in dem ersten Theile der chromatischen Phantasie und in dem zweiten Satze des D-moll-Concertes, welches in seiner Ungebundenheit eine so innige Sehnsucht religiöser Romantik enthüllt, wie es nachmals in keinem Theile der Literatur wieder vorkommt.

Der sensuale Reiz des Klaviers ist noch so gering, eher negativer als positiver Natur, daß auch dadurch die Phantasie vor einem Ausschweifen in materielle Schönheitselemente abgehalten wird.

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