Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

[Seite 21 von 30]

zurück | weiter

I. Moscheles: Studien für das Pianoforte op. 70

Die übrigen noch zu besprechenden Schriften sind mehr von monographischem Charakter, und dies bezieht sich selbst auf das Werk von Kontski, das noch einmal unter dem Titel einer Schule auftritt. Es sind meist Schriften, welche einzelne Theile des Materials abhandeln, Aufsätze, Nachträge und Beiträge zu der der vorgerückten methodischen Bildung zugrunde liegenden Erkenntniß der Klavierbehandlung. Wir erwähnen zunächst die Vorrede in

Moscheles Studien für das Pianoforte. Op. 70.

Dieselbe wird hauptsächlich wegen der Berühmtheit des Autors hier namhaft gemacht. Dem Inhalte nach steht sie Czerny's Theorien nach. Die Anschlagsfrage wird z.B. mit einer Oberflächlichkeit behandelt, die an die Zeiten vor Adam erinnert. Es wird dabei nur von Abstufungen in der Stärke gesprochen. Hingegen wird auf Bindung und präcise Ablösung der Finger ein sehr richtiges Gewicht gelegt. Ueber die Zeichen des Staccato und Halbstaccato folgen <97> Bemerkungen, die bei Czerny bereits abgehandelt sind. Ein Kapitel über gebundenen Styl wiederholt im Anfange Gesagtes, ein anderes über den Takt beginnt mit dem Satze: "Der Takt ist die Seele der Musik", und stimmt im Uebrigen mit Adam, Hummel, Kalkbrenner usw. überein, daß ein zu häufiges Abweichen vom ursprünglichen Tempo nicht zulässig sei. - Schließlich werden einige beachtenswerthe Fingerzeige für das Einüben gegeben: man solle zuerst das Stück langsam durchspielen, hierauf den Fingersatz bestimmen, darnach den Takt, endlich einzelne Stellen wiederholt studiren und schließlich das zusammenhängende Spiel zur Aufgabe machen.

R. Schumann: Paganini-Etüden op. 10 / Album für die Jugend op. 68

Werthvoller ist die Vorrede von

Robert Schumann, in dessen "Studien für das Pianoforte nach Capricen von Paganini". Op. 10.

Wir begegnen hier einem neuen Elemente. Dem einseitigen Vordringen der Technik gegenüber, die unter Czerny's Einfluße charakteristisches Kennzeichen der neueren Virtuosität wurde, finden wir bei Schumann einen mehr ideellen Standpunkt, welchem wir später auch Marx sich entgegen neigen sehen werden. Es konnte nicht fehlen, daß, selbst auf die Gefahr einseitiger Anschauung hin, ein Gegengewicht gegen die überwuchernde Technik irgendwo lautbar werden mußte, und die Individualität Schumann's, sein reformatorischer Gang, der auch in der Komposition bahnbrechend hervortrat, war ganz zu dieser Opposition geschaffen.

Zu der genannten Vorrede muß auch der Anhang zu seinem Jugendalbum [Op. 68] hinzugenommen werden. Gewinnen wir auch aus beiden Aufsätzen nichts Zusammenhängendes, sondern mehr etwas Aphoristisches, so geht doch die Grundanschauung deutlich hervor, es solle der Mechanik nicht so viel geopfert werden, sondern der musikalische Geist, die Phantasie, in Beschäftigung bleiben. Es sollen weniger Uebungen aus Klavierschulen gespielt, als selbst dergleichen erfunden werden. So empfiehlt z.B. Schumann bei einer <98> Terzenstelle in der zweiten Etüde, das ängstliche Ueben einzelner Partien zu unterlassen, "wenn nur die Terzen genau zusammen und aus lockerem Fingergelenk angeschlagen würden; das Fortspielen übe mehr als jenes Ueben". In dem Wenn liegt freilich eine starke Voraussetzung, und wäre es eben leicht, den Schumann'schen Anforderungen ohne mechanische Studien zu entsprechen, so hätte sich von Anfang an das Klavierspiel mehr an die geistige Seite gehalten. - Im ganzen nun bewegt sich Schumann mehr auf der Oberfläche seines Prinzipes, nirgends dringt er tiefer ein. Im Jugendalbum wird es wiederholt, daß die vielen mechanischen Uebungen bis ins hohe Alter hinein es nicht thun; sie gleichen dem ABC, das man immer schneller sprechen lernen will. Auch stumme Klaviaturen sind unnütz, hören muß man, was man spielt. Anstatt sich Tage lang mit Uebungen abzusperren, soll man lieber im vielseitigsten musikalischen Verkehre, namentlich mit Chor und Orchester, leben. Die Stücke, die man spielt, muß man nachsingen können, lieber leichte Stücke vollkommen, als schwerere mittelmäßig lernen, nach dem Beifall der Künstler mehr als nach dem des Publikums ringen, und in einer angeregten, allseitig bildenden, selbst dichterischen Sphäre leben, die Innerlichkeit stets mit ächt musikalischem Denken erfüllen.

Dies sind Alles anzuerkennende Wahrheiten, aber vorausgesetzt bleibt dabei, daß die Technik entweder überwunden ist oder nebenher ihr Recht erhält. Für den Talentvollen sind sie zutreffend, für den minder Begabten - und darunter ist doch wohl die Mehrzahl der Klavierlernenden zu verstehen - von zweifelhaftem Werthe. Den Geist im Munde führen, klingt gar so hoch hinaus, es ist aber im Grunde doch sehr wohlfeil; ohne einen unsäglich ausdauernden, der Technik gewidmeten Fleiß, geht es einmal nicht.

Richtig erkennt Schumann bei allen Studien eine dreifache Entwickelung:

  1. Ein mechanisches Befassen, besonders genaues <99> Festsetzen des Fingersatzes.
  2. Einen höheren technischen Standpunkt, das Spiel soll Schwung und Weichheit im Anschlag, Rundung und Präcision der einzelnen Theile, Fluß und Leichtigkeit des Ganzen erhalten.
  3. Nach Ausscheidung aller äußeren Schwierigkeiten soll die Phantasie sich sicher und spielend bewegen können, ihrem Werke Leben, Licht und Schatten geben, und was an freierer Darstellung noch fehlt, vollenden.

A. de Kontski: Indispensable du Pianiste op. 100

Wir gehen jetzt aber zu dem bereits oben erwähnten Werke von

Antoine de Kontski, L'Indispensable du Pianiste. Op. 100.

Scheinbar strebt diese Schule nach einem minder mechanischen Standpunkte, als frühere Klavierschulen, indem sie kürzer gefaßt ist, und in einem großen Theile nur theoretisch anregen will. Der erste Abschnitt verwirft in launiger Darstellung alle Arten äußerlicher Hilfsmittel, als da sind: Die Kalkbrenner'sche Leiste, den Dactylion von Herz, die stumme Klaviatur, den Chirogymnast, und selbst die Schule der Fingerübungen, worin die Anweisung zum Selbstbilden von Fingerübungen ertheilt wird. Dieser freie Standpunkt ist indeß nur Schein, und alsbald zeigt sich im Verlauf des Werkes eine Unvollständigkeit nach der andern, selbst Widersprüche, indem z.B. S. 41 die mechanischen Uebungen auf fünf Tönen als das Nützlichste und Unentbehrlichste bezeichnet werden. Zwar fehlt es dem Werke nicht an guten Uebungsbeispielen und nützlichen Regeln, im ganzen wird aber doch die Technik zu oberflächlich veranschlagt, und Phrasen suchen oft zu ersetzen, was eine nicht genügende Sorgfalt in der technischen Entwickelung vermissen läßt.

Hauptsächliches Gewicht wird auf einen einzelnen Effekt gelegt, den Kontski mit besonderer Ausführlichkeit beschreibt. Dies ist diejenige Farbe des Anschlags, die er Carezzando nennt. Der Finger streichelt die Taste, indem er von der Mitte derselben anfangend nach dem vorderen Rande hingleitet, und während dem dieselbe so weit <100> herabdrückt, daß der Hammer die Saite ganz leise berührt. Beim Oeffentlichspielen erreichte damit der Autor allerdings eine in dieser Weise noch nicht bekannt gewordene Wirkung, wenngleich ein Liebkosen der Taste in Kalkbrenner's Schule bereits unter dem Ausdrucke caresser vorkommt.

Wichtiger ist aber die Kontski'sche Theorie der Handhaltung, welche in Opposition tritt mit der seit Bach aufgekommenen, und ohne es zu wissen, auf die Manieren der ältesten Zeit zurückgeht. - Während in den anderen Schulen auf gekrümmte Finger, auf Horizontalität der Handdecke und des Vorderarmes gesehen, bei einigen sogar auf ein Höherhalten des Handgelenkes gedrungen wird, verlangt Kontski eine niedrigere Haltung des letzteren und fast ganz grade ausgestreckte Finger. Die Fingerspitze ist nach ihm der gefühlloseste Theil des Fingers und giebt einen trockenen Ton, während nach der gewöhnlichen Erfahrung die Feinheit des Tastsinns gerade vorzugsweise in ihr begründet ist. Und doch ist nicht in Abrede zu stellen, daß so manche Vortheile mit dieser Ansicht verbunden sind, worüber später ausführlicher gehandelt werden soll, und daß der Verfasser durch eine sehr weiche und flüssige Mechanik sein Prinzip vollkommen zu vertreten verstand.

Der Abschnitt über den Vortrag verfällt in die Unvollkommenheiten der Adam'schen Schule. Es heißt hier, Anschlag und Gefühl seien die Hauptsachen. Sie machten die Musik unwiderstehlich anziehend, die schnellen Noten thäten es nicht, man müsse edle Gesinnungen und ein Herz haben, um die erhabenen Aufgaben der Musik zu verstehen und verständlich zu machen u.dgl.m.

zurück | weiter
nach oben