Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

[Seite 26 von 30]

zurück | weiter

A.B. Marx: Diverse musikästhetische Schriften

Die andere, diesem Werke entgegengesetzte Richtung schlägt [Adolf Bernhard] Marx ein in drei Schriften, welche betitelt sind:

  1. Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts.
  2. Beethoven's Leben und Schaffen (II. Theil. Anhang [Anleitung zum Vortrag Beethovenscher Klavierwerke.])
  3. Auswahl aus Sebastian Bach's Kompositionen.(Vorrede.)

Der genannte Autor legt seine Ansichten nicht in der Absicht eines zusammengehörigen, <106> dem Klavierspiel ausschließlich gewidmeten Systems dar, sondern gelegentlich, so weit ein größerer Stoff die desfallsigen [!] Abschweifungen gestattete. - Wir besitzen daher nur fragmentarische Ausführungen, worunter die über die Behandlung Bach'scher und Beethoven'scher Werke die bedeutsamsten sind.

Marx findet in der technischen Virtuosität der Neuzeit eine Unvollkommenheit, indem die Individualisation des Fingers nicht genügend gebildet ist. Dies ist nicht so zu verstehen, als ob damit die mechanische Unabhängigkeit und individuelle Gymnastik in Abrede gestellt würde; diese sind einzuräumen; was den Fingern fehlt, ist die Beseelung des Tones. Er hätte sich einfach so ausdrücken können: die modernen Spieler entbehren desjenigen psychischen Elementes, welches in der Bildung des einzelnen Tones den poetischen Reiz erkennt und zu Wege bringt. Denn den Fingern fehlt die Fähigkeit der Declamation keineswegs; der Geist nur lebte mehr in figurativen Kombinationen als in der innigen Versenkung in die Sprache der einzelnen Töne.

Marx drückt sich darüber folgendermaßen aus: "In allen bedeutenden Melodien treten einzelne Momente, ja einzelne Töne, als das Entscheidende, als Lichtpunkte des Ganzen hervor, die für sich auf das Bestimmteste und Feinste empfunden und dargestellt sein wollen. Hier wird das Gegentheil von jener Gemeinsamkeit und Gleichmäßigkeit des Fingerwerkes Bedürfniß. Man muß so zu sagen nicht mehr mit der Hand im Ganzen spielen; jeder Finger muß den Empfindungston für sich allein, in dem erforderlichen Grade von Zartheit oder Betonung, von Sonderung oder Verschmelzung mit dem nächsten zu fassen verstehen - muß gleichsam für sich Seele haben und ein selbstständig Wesen werden, um durch seinen Nerv hindurch die Seele des Spielers auf die Taste zu leiten. Wie weit auch das Piano an melodischem Vermögen hinsichts der Stärkegrade und Tonverschmelzung hinter Streichinstrumenten und Bläsern zurücksteht, <107> ist doch weit mehr, als man allermeist hört und glaubt, zu leisten, wenn die Taste mit Zartheit und Liebe angefaßt, statt gewischt oder geschlagen wird, wenn der Finger sich gleichsam mit Verständniß in sie hineinfühlt, wenn selbst die höchste Kraft nicht in rohen Schlägen sich äußert, sondern aus dem Machtgefühl des Tongehalts hervortritt. Die Taste muß gefühlt, nicht gestoßen oder geschlagen, sie muß mit Gefühl angefaßt werden, wie man die Hand des Freundes nur mit Theilnahme drückt - und das im Momente mächtigster wie zartester Erregung - anders wird Beethoven's und Bach's Poesie niemals zur vollen Aussprache kommen."

Als äußerliches Hilfsmittel empfiehlt Marx: "Daß sich die Hand unmerklich nach der Seite des Fingers, der sich nerviger betheiligen soll, hinneigt." Hierauf werden bezüglich des polyphonen Spiels Bach'scher Kompositionen die Regeln ertheilt, die Czerny bereits ausgesprochen hat; jede Tonreihe soll in selbstständiger und zusammengehöriger Klarheit zur Geltung gebracht werden, und die Finger in der Vertheilung des Stimmengeflechtes eine solche Geschicklichkeit und Geläufigkeit besitzen, daß nirgends dem Geiste irgend ein Abbruch erwächst. Das Ablösen mehrerer Finger auf einer Taste ohne Wiederholung des Anschlags wird sehr häufig behufs der Bindung verlangt, und erfordert besondere Uebung, nicht minder eine gewisse Zahl unregelmäßiger Fingersetzungen, wie z.B. das Uebersetzen des vierten über den fünften, der mehrmalige Gebrauch desselben Fingers bei verschiedenen Tasten. (Czerny sagte ganz richtig, beim Fugenspiel höre jede Regel auf - dies ist natürlich so zu verstehen, daß die Verbindung als geistiges Moment das allein Bestimmende ist, und die Technik in einer möglichst angemessenen Weise sich danach zu richten hat.)

Betreffs des Vortrags hebt Marx hervor, daß das fertige saubere glänzende Abspielen der modernen Virtuosität keineswegs für die tiefere Erfassung Bachs hinreiche. An ein flüchtiges, glänzendes <108> Massenspiel ist hier nicht zu denken. Je reicher und tiefer der Inhalt, je mehr er sich in einzelnen Zügen ausspricht, desto weniger gestattet er dem theilnehmenden Gemüth ein Darüberhineilen. Um in den Inhalt einzudringen, müssen wir stets fragen, was sich in diesen Notenreihen darlegt, und was mit ihnen begonnen werden kann.

Hiernach geht der Autor in einen Theil der von ihm zusammengestellten Bach'schen Kompositionen analysirend ein, führt durch Betrachtung der rythmischen und melodiösen Einzelheiten das Nachdenken auf Tempo und Stärkebestimmung, und leitet die Vorstellung auf das einheitliche Gefühl, das dem Inhalte zugrunde liegen muß. Hinsichtlich des Vortrags der Fuge findet er die Regel, das Fugenthema hervor zu heben, nicht ausreichend. "Jede Stimme führt ihren Gesang in Gegen- und Zwischensätzen einheitvoll weiter. Dies, dieser stets und in jeder Stimme beseelte wahrhaft dramatische Dialog ist eben das Wesen und Leben der Fuge. Jede Stimme muß nach ihrem Inhalte Zug für Zug studirt, und hiernach erst ihr Zusammenwirken mit den andern und das Ganze bemessen werden. Das dunkle Gefühl ist nicht ausreichend, ein aufhellendes Bewußtsein bringt die lichte Gluth wahrer Begeisterung. Im Widerspruch gegen viele Freunde des Alten wird endlich darauf aufmerksam gemacht, daß Bach recht wohl auch Eilen und Zögern vertrüge, mithin Mittel des Vortrags in Anspruch nehmen könne, die viele nur dem Modernen zuertheilen. "Sei denn das Gemüth der Alten anders beschaffen, als das unsere? Hat Bach nicht urkundlich Freude, Zorn, Schmerz, hinschmelzende Wehmuth zu seinen Aufgaben gemacht? Und ist es nicht dem bewegten Gemüth eigen, daß seine Wallungen bald heftiger und hastiger anschwellen, bald sich mildern? Wo gleiche Stimmung herrscht, da muß auch der Spieler festhalten am Maaß der Bewegung, wie z.B. in Beethovens großer <109> C-dur-Sonate. Wo das Gemüth wechselnd bewegt ist, muß der Spieler ihm gehorchen."

Ueber Beethoven erörtert Marx Aehnliches. Auch für diesen Tondichter genügt nicht die Glanzseite der virtuosen Fähigkeiten. Er will geistig erfaßt sein, und es ist nothwendig, sich in denselben hinein zu leben. Abzulehnen ist die Ansicht mancher Lehrer, als ob der Schüler erst eine vollkommene technische Ausbildung abwarten müsse, bevor er sich an Beethoven's Werke wagt. Die letzteren passen theilweise (wie z.B. die Sonaten Op. 10, 14 u.a.) recht wohl ür den mittleren Standpunkt technischen Geschicks, ja wohl manche für einen noch niederen, und reichen hinan bis zu den höchstgelegenen Stadien. Der Schüler ist keineswegs von der Bekanntschaft und Vertiefung in Beethoven auszuschließen, ein einseitiges Ueben der glänzenden Seiten hat oft Unfähigkeit, Beethoven's Fluge zu folgen, zum Resultate. Hierbei charakterisirt Marx den Mangel der heutigen Technik in ähnlicher Weise, wie oben bei Gelegenheit Bach's "es fehle den Fingern die individuelle Bildung".

Nicht das Hervorstoßen der Melodie, wie in den Thalberg'schen Phantasien, genüge da wo es bei Beethoven auf declamatorische Erfassung ankomme; Ton um Ton wolle die Cantilene des letzteren verstanden und ausgemeißelt sein und sich gegen die Begleitung absondern. Hiernach folgen Beispiele aus der G-dur-Sonate Op. 14, das erste Thema der großen F-moll-Sonate, der erste Zwischensatz im ersten Theile der Es-dur-Sonate Op. 27, der erste Satz der Cis-moll-Sonate, und der zweite Satz aus Op. 90. In allen diesen muß jede Stimme, die selbstständigen Inhalt hat, von den andern gesondert und ihrem eigenen Sinne gemäß durchgeführt werden. Die Schwierigkeiten wachsen mit dem Reichthum und der Freiheit der individualisirenden Elemente der Tondichtung; für das Finale der Sonate Op. 101 z.B. und das Fugato in Op. 120 reicht die zur Unisonität und Uniformität gebildete moderne Spielhand <110> nicht aus. Der Fingersatz muß vielfach von seinen allgemeinen Gesetzen abweichend darauf eingerichtet werden, die Finger dahin zu bringen, wo jeder am zweckmäßigsten neben den andern oder im Gegensatz zu ihnen eingreifen kann. Marx wiederholt hier, daß die Hand durch ihre Hinneigung und ihr Gewicht den Fingern im Hervorheben der entscheidenden Töne beistehen müsse. Die Technik bedarf der Poesie.

Betreffs der allgemeinen Auffassung der Beethoven'schen Werke gilt die Regel einzig und allein, den Geist der letzteren zur bestimmenden Autorität zu nehmen, und über jede mündliche Ueberlieferung, sei sie auch aus Beethoven's Munde selbst, zu stellen. Um diese Autorität aber richtig zu verstehen, bedarf es technischer und geistiger Reife, und die letztere dokumentirt sich in der Empfindung für das Werk und in der Lust, es sich zu eigen zu machen. Man muß von jedem Bedürfniß der Technik absehen und in anderer denkender Weise sich mit dem Werke beschäftigen. Es werden hier drei Reihen der Sonaten aufgestellt, wie sie, von leichterem Gehalte anfangend, sich bis zu dem tiefsten und inhaltvollsten erheben:

Soll ein bestimmtes Werk studirt werden, so spiele es der Schüler ohne Rücksicht auf Technik ununterbrochen ein paarmal in dem etwaigen richtig angenommenen Tempo durch. Dies gilt von jeder anderen Komposition nicht minder. Hinsichtlich des Tempo ist der innere Sinn der entscheidende Richter. Je mehr der Inhalt eines Satzes in das Feine und Einzelne ausgearbeitet ist, desto weniger verträgt er übereilte Bewegung. - Die technische Ausführbarkeit ist durchaus nicht der Maaßstab für das Tempo (wie z.B. die ersten Sätze der Op. 13, 28, 90, 101 zeigen). Beethoven hat oft seine Unzufriedenheit über zu schnelles Zeitmaaß ausgesprochen. <111> Die Beziehung der Sätze unter einander trägt oft viel dazu bei, die Schnelligkeit der einzelnen zu bestimmen.

Bei tieferem Eindringen muß man nun mit größerer Schärfe den Inhalt auffassen, mit Gefühl und Gedanken den Sinn der einzelnen Glieder sich zum Bewußtsein bringen, und sich eine ziemlich sichere Vorstellung von der für jedes geeigneten Vortragsweise machen. Marx analysiert hierbei in trefflicher Weise den ersten Satz von Op. 7, und weist nach, wie jeder Ton Bedeutung hat, und mit innerer Nothwendigkeit vom Meister gesetzt ist. Dies gilt selbst von den Verzierungen, die sich bei Beethoven nicht verändern lassen, wie etwa bei Hummel oder Chopin. Ferner wird bestimmt, der tektonische Bau müsse genau mit aller Ueberlegung zum Bewußtsein gebracht sein; einiges wird nur angedeutet, anderes ausführlich behandelt; so z.B. was sich auf die Darstellung der Beethoven'schen Cantilene bezieht.

Unbedingte Nothwendigkeit für den Vortrag Beethoven'scher Kompositionen ist Taktfreiheit. Mehrere Werke fordern sie allerdings nicht, wie z.B. Op. 22, 54, 53, aber die Mehrzahl. Taktfreiheit ist Naturgesetz, nicht Taktfestigkeit. Sie liegt begründet in der Wellennatur des Gemüthes. Beethovens eigener Vortrag war ganz von dieser Freiheit belebt. Marx, der in allem, wie bekannt, ein Heranringen des Tones an das Wort erblickt, betont die Taktfreiheit ganz besonders, weil sie allein im Stande ist, dies Ringen auszudrücken. - Hiernach analysiert der Autor abermals mit Rücksicht auf diese Taktfreiheit einige Sonaten, nämlich Op. 31 D-moll, Op. 57 F-moll und Op. 90 E-moll.

Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß Marx's Bedeutsamkeit auch in diesen, dem Klavier gewidmeten Episoden hervortritt. Anregend wirkt seine poetische Diction, sowie die produktive Kraft seiner Phantasie, die leicht Worte, Inhalt und Vorstellungen in den Tongehalt der musikalischen Dichtungen hinein zu legen versteht. <112> Sind dieselben auch nicht zwingend, lebt vielmehr der Geist der Musik in einem allgemeineren Reiche, als Marx es anerkennt, so befruchtet doch sein Vorgang und besonders die Wärme seiner Sprache die Empfängniß für die edelsten Gattungen der Musik, und leitet das eigene Denken an, sich tiefer der Tonwerke zu bemächtigen. Ganz in seinem Rechte ist er aber, wenn er beim Klavierspiel den Geist zur obersten Instanz erhebt, und alles Streben der Technik nach diesem höchsten Ziele hingeleitet wissen will.

zurück | weiter
nach oben