Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 4

[Seite 1 von 5]

zurück | weiter

Zweiter Theil. Die Darstellung des Klavierschönen im Besonderen.
Erster Abschnitt. Die Technik.

Viertes Kapitel. Disposition des nachfolgenden Systems. - Bedeutung der Technik. - Die Theorien der Handstellung.

<117> Das Klavierspiel ist reproducirende Kunst. Die Improvisation und Komposition auf dem Pianoforte unterliegen Regeln, welche in allgemeinere Gebiete des musikalisch Schönen hinein reichen. Sollte auf dieselben im weiteren Verlaufe Rücksicht genommen werden, so kann dies zum mindesten nicht in dem Sinne geschehen, als ob diese ästhetischen Zweige von Grund aus hier construirt werden sollen.

Das Material des Klavierspiels bilden diejenigen sinnlichen Bedingungen und Verhältnisse, welche die Darstellung des für den Organismus des Pianos und des menschlichen Spielapparates geschaffenen musikalisch Schönen möglich machen, und die Aesthetik des Pianofortespiels hat diesen sinnlichen Bestand auf allgemeingültige Gesetze der Schönheitswissenschaft zurück zu führen. - Das Klavierspiel in seiner Besonderheit, d.h. in seinen unterscheidenden Merkmalen, hat also überwiegend in den Bedingnissen der sinnlichen <118> Wiedergabe des geistig voraussetzlich richtig Recipirten seinen Lebenskreis. Von dem Momente an, wo diese sinnlichen Bedingungen von der Aesthetik so weit entwickelt sind, daß sie den musikalischen Schönheitsgehalt in dem ihnen zugemessenen Umfange wiederzugeben vermögen, würde ein weiteres Vordringen der Lehre unfehlbar in die Sphäre der allgemeinen Musikästhetik überzugreifen haben. Daß sie sich hier kürzer zu halten habe, ist auf Grund einer säuberlichen Abscheidung der Wissenschaften natürlich; obwohl keineswegs dabei übersehen werden soll, daß ein gewisser Antheil an dem Allgemeinen und Höheren mit zu dem Lebenskreise des Speciellen gehört, und daß das Prinzip der wissenschaftlichen Grenzabscheidung zu kurzsichtig verfahren würde, wollte es nur das Unterscheidende und nicht auch einen Theil des Gemeinsamen dem Rechte des Speciellen zuerkennen.

Die hier in Rede stehende Specialästhetik nimmt einen Gang, der von dem bei der allgemeinen Aesthetik üblich gewordenen abweicht. Die letztere verweilt vorzugsweise in der Ideologie des Schönen, und leitet aus der Theorie die Erscheinungen der einzelnen Künste gewissermaßen ab. Die hier folgende Entwickelung construirt von unten auf den Umkreis ihres Schönen; sie beginnt mit den elementarsten Kunstanfängen und verfolgt die Thätigkeiten des von der Phantasie bestimmten Willens von Stufe zu Stufe immer höher hinauf, bis immer neue Ideen in dem so bearbeiteten und unterwürfig gemachten Materiale auftauchen, und zuletzt der ganze Gehalt in seiner ihm möglichen Ausdehnung gewonnen ist. - Ist das Allgemeine und das Ganze wegen seines philosophischen und poetischen Reizes auch anziehender, als das in trockenen Elementarverhältnissen verweilende Besondere, und imponirt demgemäß der Gang der allgemeinen Aesthetik von Anfang an durch einen abstrakten Nimbus mehr als das hier innezuhaltende Lehrverfahren, so ist das letztere dafür weniger dem Irrthume ausgesetzt, und hat <119> obenein das Verdienst, das Schöne in die sinnlichen und wirklichen Einzelheiten zu verfolgen, was die von Theorien zu tief in Anspruch genommene allgemeine Aesthetik meist unterläßt.

* * *

Die Idee des Kunstwerks wird vermittelt durch den sinnlichen Stoff. Das Herantreten an denselben ist die erste That der künstlerischen Energie, seine allmälige Ueberwindung ihre erste und nothwendigste Errungenschaft. Der Stoff muß sich fügen, und ihm so viel wie möglich abzuringen nach den Gesetzen des geheimnißvollen Idealitätszuges der Psyche, ist die Aufgabe jeder Kunst.

Für das Klavierspiel hat die allgemeine musikalische Phantasie inhaltlich und technisch das Material so weit im voraus bearbeitet, daß unmittelbar nur die von den Bedingungen des natürlichen Zustandes bestimmte Hand als der Stoff vorliegt, der sich dem Willen fügen muß. Die Bildung der Hand ist der Verlauf desjenigen Prozesses, in welchem die in der letzteren von der Natur angelegten, aber theils unentwickelten, theils in die Vielheit anderer Bedürfnisse sich zersplitternden Neigungen und Fähigkeiten, für einen ganz bestimmten Zweck mit Geläufigkeit und Kräftigkeit dienstbar gemacht werden. Dieser Zweck geht darauf hin, daß die Hand zunächst, sodann aber der ganze Spielapparat bis zur Muskulatur des Oberarmes hinauf, fähig gemacht werde, den bestimmten im Klavier und besonders in der Klaviatur vorliegenden Mechanismus so zu behandeln, daß die Klangerzeugung in allen denjenigen Verhältnissen zu Stande gebracht werden kann, wie sie der in den für das Klavier geschaffenen Tonwerken niedergelegte Geist verlangt.

Die Klangerzeugung beruht beim Klavierspiel einerseits auf der specifischen Natur des Hämmermechanismus, und die Eigenschaften des letzteren, wofern er die normale Vollkommenheit hat, bestehen:

  1. In einer unbedingten Nachgiebigkeit der gegen die Saiten gerichteten Schlagthätigkeit.
  2. In einer damit aufs Engste <120> zusammenhängenden Nüancirung und Modification des Stärke- und Schnelligkeitsgrades jener Schlagthätigkeit; und
  3. in einer allen Einzelgliedern des Gesammtmechanismus derartig genau zugemessenen Egalität, daß gleicher Kraftaufwand gleiche Qualität und Quantität des Tones erzielt, und den Modificationen des ersteren die Nüancen der letzteren entsprechen. -

Das Mittel, durch welches die Hand mit dem Hämmermechanismus in Korrespondenz tritt, ist die Tastatur, eine durch mathematisch-reguläre Abscheidung einzelner Felder auch im Aeußerlichen das Prinzip der Egalität darstellende und für das Fingergefühl anregende Fläche, sowie denn auch im Bau der Hämmer eine dem entsprechende Egalität der Formenbildung zugrunde liegt.

Die hier mitgetheilten Eigenschaften eines mechanischen und toten Organismus sind bestimmend für die Aufgabe, der sich die Hand zu unterziehen hat. Sie hat formell nicht minder als dynamisch sich ganz die nämlichen Eigenschaften anzueignen. Die unbedingte Nachgiebigkeit des Hammerschlages entspricht der Lockerheit der Fingerbewegung, die dem Willen vollkommen gefügige Nüancirung aller Stärke- und Schnelligkeitsgrade der Schlagbewegung liegt als unbedingte Forderung nicht minder bei der Hand als beim Hämmermechanismus zugrunde; die Egalität des Schlaggewichtes, die Ausgleichung der verschiedenen Fingerkräfte zu einer in sich egalen Schwere ihrer Schlag- und Druckwirkung ist die nächstfolgende Aufgabe, und die letzte endlich besteht in einer dieser Anforderung auch formell entgegenkommenden Aeußerlichkeit der Fingerhaltung.

So leicht sich nun auch eine Uebersicht der nächsten Aufgaben auf diese Weise herstellen läßt, so beruht doch die praktische Aneignung auf einem langen, mühseligen Kampfe des Willens mit den Kräften des hier vorliegenden Naturstoffes. Die Praxis vollendet in einem langwierigen Prozesse, nach und nach, Stufe um Stufe, aber nicht in gerader Linie, mit unendlichen Umwegen, in <121> fortwährenden Rücksichten auf allerhand andere gleichzeitig sich darbietende Nebenumstände und Aufgaben den Weg, der zum letzten Ziele führt. Das letztere ist nicht bloß in der Mechanik zu gewinnen, sondern umfaßt eng zusammenwirkend und zusammengehörend mit dieser Mechanik ein weit ausgelegtes geistiges Gebiet, und selbst abgesehen von diesem, löst sich die scheinbare Einfachheit der rein mechanischen Aufgabe durch allerhand Verhältnißstellungen des lebendigen, von physischer und psychischer Wärme beseelten Fingerapparates zu dem vorliegenden leblosen Tasten- und Hämmerorganismus in ein weit und fein ausgesponnenes Netz von Regeln, und Formen auf, so daß die Theorie eine genauere Ausführung erfordert. - Wir gehen unmittelbar an die letztere.

* * *

zurück | weiter
nach oben