Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 13

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Ich mache nun noch auf eine besondere Art von Tactschwierigkeiten aufmerksam. Sie umfaßt jene große Menge von Passagen, in welchen zwar jede Hand für sich die Maaßeinheit in gleich lange Töne zerlegt, jedoch in der Art, daß die Verschiedenheit in der Geschwindigkeit der parallelen Passagen nur mit dem Eintritt der Maaßeinheit selber den beiden Händen einen genau gleichzeitigen Anschlag gestattet. Der am häufigsten vorkommende Fall ist der, daß die eine Stimme die Einheit in zwei, die andere in drei Theile theilt. Ist das Tempo langsam genug, um kleinere Zeitlängen als die Einheit durch Zählen hervorzuheben, so ist die Spielweise bald zu lernen. Man zählt, wenn z.B. Triolenachtel mit einfachen Achteln parallel gehen, für jedes Viertel drei; das zweite einfache Achtel tritt dann zwischen 2 und 3 in derselben Art ein, wie etwa ein viertes Triolensechzehntel. Sobald aber das Tempo zunehmen soll, wie es in fast allen solchen <274> Stellen erforderlich ist, so ist diese Art zu zählen nicht mehr durchführbar. Schülern, die kein gutes Taktgefühl haben, ist damit eine Grenze gesetzt, die oft nur mit Mühe überschritten werden kann. Bei allen anderen Passagen ist der Unterschied einer schnellen und langsamen Ausführung graduell, hier ist er specifisch. Im schnellen Tempo denkt niemand mehr an das accurate Dazwischenschlagen, wie es eben erörtert wurde. Vielmehr kommt es nur darauf an, daß jede Hand ihr Geschwindigkeitsmaaß genau im Gefühl hat; das ganz langsame Studium von schnellen Passagen der in Rede stehenden Art ist darum nur das primitivste Mittel, zum Ziele zu gelangen. Es kommt oft vor, daß Schüler solche Figuren, solange in jedem Viertel bis 3 gezählt wird, gut begreifen; so wie die Grenze dieser Weise zu zählen eintritt, beginnen Rhythmen wie folgende:

[Notenbeispiel S. 274, Nr. 1]

In den meisten Fällen habe ich es noch am praktischsten befunden, beide Hände zunächst so lange getrennt studiren zu lassen, bis in jeder ein bestimmtes Gefühl der von ihr verlangten Geschwindigkeit entwickelt ist, und dabei die Maaßeinheit jedesmal durch energische Accente hervorzuheben. Diese Accente halten dann beide Hände beim Zusammenspielen aneinander fest. Gelingt es, den Grad der Geschwindigkeit der Hand in einem unverrückbar festen Gefühl zum Bewußtsein zu bringen, so ist alles gewonnen. Mißglückt es dagegen, so dürfte das Zählen der kleinsten Maaßtheilchen, die hier in Betracht kommen, die einmal gezogene Schranke nicht überwinden.

Treten in den beiden Händen drei- und viertheilige Figuren zusammen, wie etwa in Chopin's Fantasie-Impromptu, so nützt das Zählen kleinerer Zeitlängen als der Viertel, überhaupt nicht mehr. <275> Scharfe Accente sowie jenes nicht genug zu betonende bestimmte Gefühl der erforderlichen Geschwindigkeit, ermöglichen hier allein eine correcte Ausführung. Dasselbe gilt von allen ähnlichen Bildungen, beispielsweise von solchen, wo eine Hand die gegebene Zeitlänge durch 5, die andere durch 7 Töne ausfüllt.

Es sei hier noch einmal wiederholt, daß die Bildung der Taktsicherheit ein Element ist, welches von Anfang an bis zu den letzten Aufgaben des Klavierspiels fortwährend durchgeführt werden muß, und keineswegs bei gutem Verständniß in einer solchen Ausschließlichkeit das Interesse des Lernenden auf seine vereinzelte Aufgabe hinzuleiten hat. In solchem Falle wird nur bruchstückweise ein oder der andere Abschnitt vorzutragen sein. Wo aber einmal das Taktgefühl unsicher scheint, wird die Theorie in ihrer ganzen Ausdehnung nebst den praktischen Beispielen gesondert in den Lehrstunden vorzunehmen sein, und läßt sich erwarten, daß selbst die schwerfälligsten Fassungsgaben zu einigem rhythmischen Verständniß gelangen werden, wenngleich es nicht verschwiegen werden darf, daß die Aufgabe, auf solche zu wirken, unter allen die undankbarste bleibt. Jenes Gefühl, das wie ein unsichtbares Uhrwerk in der Brust pendelartig taktirt, ist ein Vorzug, der Wenigen zu Theil wird, und zu dessen Gewinnung die psychischen Kräfte sehr verschieden organisirt sind. Die einen sind reizempfänglich für Alles, was in das Gebiet des Rhythmus fällt, beobachten und lernen aus eigenem Instinkte. Andere müssen sich anstrengen, um die Gleichheit zweier Zeitlängen abmessen zu können, und es gelingt oft den besten Bemühungen nicht. Diese beobachten aus freiem Instinkte gar nichts, und es ist die mühselige Aufgabe des Lehrers, in den wenigen Lehrstunden das in Thätigkeit zu bringen, was zu seiner Vollkommenheit so sehr viel eigener Uebung bedarf. Unglücklicherweise stehen die sonstigen Fähigkeiten solcher Schüler oft in keinem viel besseren Verhältnisse, und einsichtslose oder unbemittelte Eltern würden sich <276> nicht dazu entschließen, für Musik dreifach so viel Unterrichtsstunden ansetzen zu wollen, als gemeiniglich die Sitte bestimmt, in welchem Falle aber mit größerer Zuverlässigkeit auf die Erweckung des rhythmischen Gefühls gerechnet werden könnte.

Zum Schluß dieses Kapitels sei es noch einmal gestattet, den alten Ausspruch: "der Takt sei die Seele der Musik", zu betonen, und jedes Klavierspiel als eine Verkennung seiner künstlerischen Bestimmung zu bezeichnen, wo diese wichtigste aller Eigenschaften nicht auf das Strengste begrundlagt ist.

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Es darf schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß das laute Zählen, seinen Einfluß auf den Takt abgerechnet, auch noch technische und psychische Vortheile gewährt. Bei Schülern besthätigt die Erfahrung, daß Alles, was mit lautem Zählen eingeübt wird, egaler, kerniger, abgerundeter klingt, und daß der Spieler eine sehr erklärliche, bedeutendere Sicherheit über sein Stück erhält, als ohne jenes Zählen. - Seine Kräfte werden zu angestrengterer Thätigkeit aufgefordert, und hört das laute Zählen im letzten Entwickelungsstadium auf, so wird das Spielgefühl, selbst den schwersten Aufgaben gegenüber, in Folge der Erleichterung und Entfesselung Sicherheit besitzen. Dies beruht auf dem so oft angewendeten methodischen Grundsatze, daß jede Aufgabe leicht erscheint, wenn sie durch erschwertere und vergrößerte Anforderungen vorbereitet wurde. Die Theilung der Aufmerksamkeit in zwei so scharf - bei aller Einheit - contrastirende Richtungen, gewinnt dem Spielgefühl einen festen Anhalt, dem Gewinde der Töne ein Spalier gleichsam, an welchem sie entlang ranken. - Gesprochene Rhythmen sind sinnlicher als gedachte, nichts ist aber dem Innerlichen erwünschter, besonders inmitten eines so vagen Elementes, als ein Anhalt an etwas Aeußerlichem. -

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