Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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2. Wir gehen zur zweiten Nummer der negativen Accente über. - Die erste führte an, daß dieselben zuvörderst einzelne <290> Töne im Flusse von gleichlangen Noten träfen, die zweite fügt hinzu, es könnten diese durch ihre Länge noch besonders aus der Reihe gleichberechtigter Elemente hervortreten, und erhielten sie in diesem Falle einen doppelt starken Accent. Dies ist die bekannte Regel von der Synkope, die kurzweg so ausgedrückt wird: "daß Synkopen lange Noten auf schlechten Takttheilen seien und scharf accentuirt werden müssen." Der Begriff lang ist ein relativer. Es kommt auf die benachbarten Noten an; ein Achtel wird inmitten von Sechzehntheilen lang genannt werden, während es unter Vierteln kurz ist. - Unter den Begriff derselben gehören auch solche Noten, die durch Bindung an eine gleichnamige, inmitten sonst gleich langer, eine Verlängerung erhalten, ein Fall, der am häufigsten eintritt, wo das Ende eines Taktes in den Anfang des folgenden herüber gebunden wird. Beispiel:

[Notenbeispiel S. 290, Nr. 1]

Die Regel von der Accentuation der Synkopen ist zwar von einer fast allgemein gültigen Bedeutsamkeit, erfährt aber doch da Ausnahmen, wo höhere Kunstgesetze den Vorrang haben. Das Abwechselungsprinzip in der rein sinnlichen Rhythmik ertheilte den Synkopen den Accent. Häufen sich die letzteren aber so, daß eine konsequente Accentuation monoton würde, so müssen auch die Synkopen die Betonung aufgeben. Auch bei zarten, anspruchlosen Stellen wird sich die letztere oft auf ein Minimum beschränken müssen. - Beide Fälle vereint finden sich in Beethovens G-dur-Sonate Op. 14, <291> wo die Synkopen an sich bereits leise nur betont werden müssen, und bei ihrer durch sechs Takte wiederkehrenden Folge zuletzt nur ganz ebenso stark wie die anderen Noten zu spielen sind.

Vom vierzehnten Takte an:

[Notenbeispiel S. 291, Nr. 1]

Das andere über dem sinnlichen Reiz der Rhythmik stehende Kunstgesetz ist die Declamation, jene Sympathie des Tones mit sprachlichen Ausdrucksformen und Ausdrucksbegriffen. Wo diese anderen Tönen den größeren Inhalt verleiht, muß die Synkope zurücktreten. Ein solcher Fall findet sich in dem Adagio der oben citirten D-moll-Sonate, etwa auf der fünften Reihe [Takt ???]. Es wäre geschmacklos, die gemeinte Stelle auf der Synkope zu betonen; vielmehr muß sie so declamirt werden:

[Notenbeispiel S. 291, Nr. 2]

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