Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 15

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3. Der Zug nach dem Dissonirenden und die Ausbreitung des letzteren selbst in größerer Dimension, oft aber auch eine nur momentane Aeußerung der Dissonanz, erhalten das Crescendo; <326> in anderen Fällen gerade umgekehrt das Decrescendo. Die letzteren ergeben sich da, wo die Spannung in einem feinen Colorit, in einem tiefinnerlichen, zartmelancholischen Pathos unterhalten wird. Das Crescendo ist mehr der naturwüchsige Ausdruck in kräftigerem Sinne. - Diese Regel hat mit der Accentregel des vorigen Kapitels Aehnlichkeit, sowie denn überhaupt der declamatorische Accent oft der Vermittlung und der Vorbereitung durch ein Crescendo bedarf.

Die bei Gelegenheit des Accentes angeführte Einleitung der Chopinschen Polonaise Op. 22, sowie die Einleitung des Schubert'schen Liedes "Der Wanderer" (vgl. die Transcription von Liszt) enthalten treffende Beispiele. In den meisten Fällen verbindet sich mit der Bewegung nach einer Dissonanz zugleich die Richtung in die Höhe, und ist dann das Crescendo in doppelter Tonfülle zu geben. Oft erfordert schon die kleinste Ausdehnung einer solchen Tonfolge den bezeichneten Ausdruck, wie z.B. in der D-moll-Sonate

Beethoven Op. 31 [Nr. 2], Mittelsatz.

[Notenbeispiel S. 326, Nr. 1: Beethoven, Klaviersonate op. 31,2 - 2. Satz]

Für eine leise Tongebung der dissonirenden Harmonie findet sich ein Beispiel am Ende des zweiten Stückes der Mendelssohnschen oevre posth. "zwei Klavierstücke" (Leipzig bei Barth. Senff); ferner im vorletzten Accorde des Mittelsatzes der F-moll-Sonate Op. 57. Das pianissimo dieses Accordes leitet charakteristisch die Stimmung aus ihrer erschöpften Resignation mit leiser Schmerzensmahnung zu stürmender Bewegung zurück.

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