Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 16

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1. Jede Note, die in der Declamation melodiöser Reihen mit besonderem Inhalte vorgetragen wird, und vermöge ihrer in den beiden vorigen Kapiteln besprochenen Stellung ein Anrecht auf höhere Bedeutsamkeit hat, erhält ein Rallentando. Der rhythmische Zug des Ganzen ist für die Ausdehnung desselben bestimmend. Herrscht eine gewisse Regularität und Präcision des Metrums vor - ist das Tempo nicht zu langsam - so wird auch das Zögern mäßig, im Verhältnisse ausgeführt. Bei getragenen Sätzen, in denen schon das Tempo ein gewisses Zerfließen des Metrums in das Element ausdrucksvoller Recitation bezeichnet, herrscht größere Freiheit für das Rallentando. Der Totalcharakter ist also maßgebend. Häufen sich Coloraturen, und machen solche auch ihrerseits dem Metrum seine Präcision streitig, so wird die bezeichnete Schattirung ihre allergrößte Freiheit erhalten. Das Rallentando ist also im Allgemeinen genau im Verhältnisse zum Tempo, Charakter und zu den metrischen Ansprüchen eines Stückes zu halten. - Oft hat es nur eine momentane Geltung. - Ein einzelner Ton im Crescendo und Decrescendo, mit welchem letzteren es sich am häufigsten verbindet, wird angehalten. Dies ist wohl unter allen die wichtigste und am meisten berechtigte Anwendung. Kein Thema, keine Cantilene, kein Lied ohne Worte kann ohne diese Beihilfe des Rallentando wirksam vorgetragen werden. Der angehaltene Ton wird bedeutsamer, inhaltvoller, er prägt sich tiefer dem Gehör ein, das Gefühl nimmt ihn in seine <335> innersten Räume auf. Diese Art des Zögerns symbolisirt die Innigkeit, die Eindringlichkeit, die Wärme der Declamation.

Geht eine Cantilene in getragenen Noten einher, so wird sich das Rallentando am häufigsten auf einem dem Ende näher gelegenen Tone anbringen lassen. Weben sich Passagen dazwischen, so muß der Spieler den Ton herausfinden, welcher entweder den Hauptpunkt der gesanglichen Momente bildet, oder inmitten leerer, rein dekorativer Rouladen das einzige gesangliche Atom ist, welches den materiellen Passagenreiz mit dem Hauche des Ausdrucks anweht. Oft erhebt ein einziger gehaltener Ton eine sonst inhaltlose Masse in die Sphäre des Ausdrucks, in der sich, um der Einheit mit den übrigen Elementen willen, die Passage gleichfalls halten muß.

Bei der Anwendung des Rallentando ist auch auf den Styl der Komposition Rücksicht zu nehmen. Es ist mit dem Zögern immer etwas Sentimentalität verbunden, aber diese hat ihre verschiedenen Grade. Beethoven's Sentimentalität ist selbst in ihrer weichsten Gestalt eine kraftdurchdrungene und bedarf im Allgemeinen weder vieler, noch sehr ausschweifender Verzögerungen. Bach in seiner Art schleißt sich ihm an. Die weiche Zerflossenheit vieler Schumann'schen Cantilenen würde dagegen mit dem Ritardando auch ihr wesentlichstes Ausdrucksmittel verlieren. Ebenso verträgt Chopin die Tempoveränderung in hohem Maaßse.

Im Allegro wird sich nur selten ein Rallentando anbringen lassen, weil hier die taktische Plastik vorherrscht. Des Ausdrucks halber wird sich nur im zweiten Thema von Sonaten und Konzerten, bei Passagen, welche zu solchen Cantilenen überleiten, eine Stelle dafür finden.

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