Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 18 von 20]

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Der canonische Stil

§. 107 Auf den canonischen Styl wieder zu kommen, als der auch in Zimmern und Sälen, nach seiner Art, ja offtmahls beym Trunck was zu sagen haben will, wenn er mit den Gästen bekannt ist, oder vielmehr wenn diese ihn kennen, so werden davon in guten musicalischen Schul=Büchern zwar etwas bejahrte, aber doch wol ausgearbeitete Exempel anzutreffen seyn, sowol als in Lobsprüchen und Glückwünschungen vor gedruckte Schrifften. Auch gibt sich noch zuweilen ein und ander Liebhaber die Mühe, canonische Sonaten zur Kammer=Music, über gewisse feststehende Sätze (canto fermo) zu verfertigen, welche wahrlich nicht so grosse Ergetzlichkeit bringen, als sie Arbeit erfordern.

§. 108. Mehr Lust wird eine auserlesene Music=verständige Gesellschafft verspüren, wenn etwa 3 oder 4 Personen ihres Mittels sich befleißigen, in der canonischen Schreib=Art, die man billig Laconisch nennen mögte, weil sie kurtz ist, allerhand Sitten=Sprüche auf die Bahn zu bringen, und dieselbe bey guter Laune herum zu singen. Ich muß wol gestehen, daß mir solche Bemühung vormahls manche fröliche Stunde gebracht hat, indem es wahrlich der beste Nutz ist, den man von der canonischen Arbeit erwarten kan. Die Frantzosen sind grosse Liebhaber von solchen Runde=Gesängen in ihren Lust=Versammlungen; sonst aber nicht, weder in der Kirche, noch auf der Schaubühne. In Engländischen Noten=Büchern traf man auch vor diesem nicht wenige hiehergehörige und recht artig eingerichtete Sachen an.

<92> §. 109. Es ist leicht zu erachten, daß die canonische Schreib=Art bey theatralischen und häuslichen Vorfällen mehr muntres und freies Wesen in der Melodie erfordere, als wenn sie zu geistlichen Materien gebraucht werden soll. Wenn iemand z.E. die Worte: Nicht uns, HErr, nicht uns, sondern deinem Nahmen gib Ehre, in einen Canon bringen wollte; so müste er seine melodischen Gänge viel bescheidener, ernsthaffter und andächtiger einrichten, als wenn es auf dem Theatro heissen sollte: Phöbus bricht nicht eh herein, bis Narcissus öffnen wird seiner holden Augen Schein, oder in einer vergnügten Gesellschafft: Iß dein Brot mit Freuden, und trinck deinen Wein mit gutem Muth. Daraus man denn auch einiger maassen die zufällige Verschiedenheit dieses Styls abnehmen kan.

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