Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 2

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2. Von den Eigenschafften eines Music=Vorstehers und Componisten, die er ausser seiner eigentlichen Kunst besitzen muß. [§. 1-69]

<99> [...]

<107> §. 55. Das Siebende, was erfordert wird, ist, daß ein Componist und Vorsteher der Music eines muntern, aufgeräumten, unverdrossenen, arbeitsamen und thätigen Wesens sey; doch auch ordentlich dabey: woran es offt bey den allerlebhafftesten fehlet. Der Müßiggang muß, wie ein Teufel, gehasset werden, weil es dessen Ruhebanck ist. Langes Schlafen taugt hier nicht; vielweniger die Uibermaasse in Tafel=Lüsten, oder ein sonst üppiges [FN: ...] Leben.

§. 56. Es will hie keine Ungedult, noch fliegende Hitze gut thun. Wenn einer nicht solche Lust oder recht innigliche Liebe zur Sache hat, daß er manchen Verdruß darüber verbeissen kan, und sich von seinem löblichen Vorhaben keine Wiederwärtigkeit abwendig machen läßt; so ist er zur Ausübung dieser Wissenschafft und des dazu gehörigen Amts gar nicht geschickt.

[...]

<108> §. 62. Ob das Reisen, und vor allen die Besuchung Italiens, hiebey erfordert werde, wie ihrer viel der Meinung sind, kan ich schwerlich schlechthin bejahen: nicht nur deswegen, weil offtmahls Gänse in Welschland hineinfliegen, und Gänse wieder heraus kommen; sondern weil diese verreisete Gänse sich auch gerne mit vielen thörichten Schwanen= oder Pfauen=Federn, ich will sagen, mit grossen, geborgten Schwachheiten und unsäglichem Hochmuth zu bestecken und zu schmücken pflegen.

§. 63. Zu dem gibt es die Erfahrung, daß ihrer viele, die Welschland mit keinem Fusse iemahls betreten haben, nicht allein andre, welche da gewesen sind, sondern zuweilen gebohrne Italienische Virtuosen selbst übertreffen. Wer sich inzwischen die Gelegenheit und seine Reisen wol zu Nutz machen kan, auch was tüchtiges aus fremden Ländern zu holen weiß, wozu er wahrlich auch was rechtes hinein bringen muß, dem wird es allemahl ein grosser Vortheil seyn. Unumgänglich nothwendig ist es nicht; offt gar unnöthig und unnützlich [FN: ...].

§. 64. Was noch neuntens und zuletzt erfordert werden mögte, ist hergegen eines der nothwendigsten Stücke, daß nehmlich ein Componist und Director, nebst seinen andern Studien, auch hauptsächlich die gereinigte Lehre von den Temperamenten wol inne habe. Denn niemand wird geschickt seyn, eine Leidenschafft in andrer Leute Gemüthern zu erregen, der nicht eben dieselbe Leidenschafft so kenne, als ob er sie selbst empfunden hätte, oder noch empfindet.

§. 65. Zwar ist das keine Nothwendigkeit, daß ein musicalischer Setzer, wenn er z.E. ein Klagelied, ein Trauer=Stück, oder dergleichen zu Papier bringen will, auch dabey zu heulen und zu weinen anfange: doch ist unumgänglich nöthig, daß er sein Gemüth und Hertz gewisser maassen dem vorhabenden Affect einräume; sonst wird es ihm nur schlecht von statten gehen.

[...]

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