Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 13 [Seite 13 von 41]

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Pastorale

§. 49. Diejenigen, so da meinen, alle diese Gattungen hätten nur in den Umständen, zufälligen Dingen und in der wörtlichen Einrichtung ihren Unterschied, nicht aber in der musicalischen Setz=Kunst, irren sich sehr: Denn, ob es zwar alles, grössesten Theils, und auf das gröbste zu reden, aus Recitativen und Arien bestehet; so haben doch auch diese ihren wesentlichen Unterschied in den Haupt=Abzeichen oder Characteren, da nehmlich

Xl. Ein Pastorale, oder Schäfer=Spiel

nicht im Frolocken und Jauchtzen, nicht in prächtigen Aufzügen; sondern in einer unschuldigen, bescheidenen Liebe, in einer ungeschminckten, angebornen und angenehmen Einfalt (naiveté) ein rechtes vornehmstes Kennzeichen findet, nach welchem sich alle Arten und Theile desselben richten müssen: Die Melodien insonderheit.

§. 50. Zwar ist es freilich wol an dem, daß die wenigsten unter den heutigen Ton=Gelehrten solche abstechende Eigenschafften beobachten, darum man ihnen auch hiemit den Weg zeigen, und Anlaß zu weiterm Nachdencken geben will: Denn sie halten fest dafür, eine Arie sey eine Arie, ein Recitativ ein Recitativ, als wenn einer sagen wollte, alle Bücher wären nichts, als nur lauter Buchstaben; Sie bestünden ja alle aus dem Alphabet; ein Buch sey ein Buch.

§. 51. Daher denn auch andre Leute, die jenen an Tiefsinnigkeit wenig nachgeben, scheinbare Ursachen genug finden, alles über einen Leisten zu schlagen. Es ist aber beyderseits übel gethan, absonderlich von denen, die der Music obliegen, und so linck davon urtheilen. Diesem Uibel mögte vieleicht diese Einsicht in die Gattungen und Abzeichen der Melodien einiger maassen zu steuren das Glück haben. Wir wollen es versuchen!

§. 52. Wer demnach ein Pastoral mit gutem Beifall in die Music bringen will, der muß sich überhaupt <219> solcher Melodien befleissen, die eine gewisse Unschuld und Guthertzigkeit ausdrücken: er muß dabey so viel verliebtes selbst empfinden, oder sich dessen annehmen, als ob er die HauptPerson im Schäferspiel vorstellte. Kaisers erste Oper, Ismene, so alt sie auch ist, giebt ein gutes Muster ab. Vieler andern dieses Schlages von eben dem berühmten Verfasser zu geschweigen.

§. 53. Die heroischen Schäfer=Spiele, wo Könige und Printzen unter verstellter Tracht, ingleichen Gottheiten und Lufft=Wagen eingeführet werden, erfordern freilich einen erhabenern Styl in denen dahin gehörigen Vorträgen und Umständen. Aber der besagte Haupt=Punct muß doch über alle andre hervorragen. Und wenn sich ein Fürst wie ein Schäfer stellet, muß er auch wie ein Schäfer singen.

§. 54. Zwar haben auch die Hirten sowol ihre Lustbarkeiten, als andre Leute; sie sind aber einfältiger, kindischer und dem Land=Leben gemässer. Die Pastorale haben auch Aufzüge und öffentliche Spiele; aber sie sind nicht prächtig, sondern nur artig. Dahero müssen die Melodien dazu diesen Eigenschafften, so viel möglich, ähnlich seyn.

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