Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 14 [Seite 4 von 4]

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§. 40. Wenn wir endlich ein Wort von der Ausschmückung machen müssen, so wird hauptsächlich zu erinnern nöthig seyn, daß solche mehr auf die Geschicklichkeit und das gesunde Urtheil eines Sängers oder Spielers, als auf die eigentlich Vorschrifft des melodischen Setzers ankömmt. Etwas Zierrath muß man seinen Melodien beilegen, und dazu können die häuffigen Figuren oder Verblümungen aus der Redekunst, wenn sie wol angeordnet werden, vornehmlich gute Dienste leisten.

§. 41. Bey Leibe aber brauche man die Decorationes nicht übermässiglich. Die [FN] Figuren, welche man dictionis nennet, haben eine grosse Ähnlichkeit mit den Wandelungen der Klänge in lange und kurtze, in steigende und fallende etc. Die Figurae sententiae aber betreffen gantze Sätze, bey ihren Veränderungen, Nachahmungen, wiederschlägen etc. etc. Die sogenannten Manieren verderben manche schöne Melodie im Grunde, und kan ichs den frantzösischen Tonkünstlern, so hertzlich gut ich auch ihrem Instrumentalstyl bin, nimmermehr erlassen, wenn sie ihre Doubles dermaassen kräuseln und verunzieren, daß man schier nichts mehr von der wahren Schönheit der Gund=Noten vernehmen kan. Bey solchen Spruch=Figuren verschwinden alle Wörter=Figuren, die doch in der Tonkunst, da wir Klänge für Wörter nehmen, die besten sind, und vor andern emporsteigen sollten, selbst bey aller Versetzung und Veränderung der Sprüche, d.i. der Gänge oder Förmelgen.

§. 42. [...]

§. 43. [...] Wolangebrachte Manieren sind keines weges geringe zu schätzen, es entwerffe sie der Componist selber, wenn er ein geschickter Sänger und Spieler ist; oder es bringe sie der Vollzieher aus freiem Sinne an. Wir tadeln aber den Misbrauch aufs höheste, und sowol die Frechheit der Singenden und Spielenden, welche sich solcher ausschweiffenden Schmückungen, aus Mangel eines guten Geschmacks, ja, einer guten Vernunfft <243> zur Unzeit und ohne Bescheidenheit anmaassen; als auch ärgerlichen Schwärmereien einiger gar zu fantastischen Componisten mit ihren tollen Einfällen, welche sie selbst für lauter Edelsteine und Perlen halten, unangesehen es gemeiniglich nur geschliffenes und überzogenenes Glas ist. Die erzwungene und allzu offt wiederholte Abweichungen mit den übelstimmenden Intervallen, samt der vielen ungebührlichen Freiheit, der sich diese Sonderlinge gebrauchen, bringen endlich eine aufrichtige Hottentotten=Music zu Marckte.

§. 44. [...]

§. 45. [...] Denn, was ist z.E. gewöhnlicher als die musicalische Epizeuxis oder Subjunctio, da einerley Klang mit Hefftigkeit in ebendemselben Theil der Melodie wiederholet wird?

eigentlich:
[Notenbeispiel, S. 243 (Nr. 1a]

figürlich:
[Notenbeispiel, S. 243 (Nr. 1b]

§. 46. Was ist wol gebräuchlicher, als die Anaphora in der melodischen Setz=Kunst, wo eben dieselbe Klang=Folge, die schon vorgewesen ist, im Anfange verschiedener nächsten Clauseln wiederholet wird, und eine relationem oder Beziehung macht.

[Notenbeispiel, S. 243 (Nr. 3)]

§. 47. [...] Wo ist die Parrhesia grösser, als in der melodischen Setz=Kunst? Die Paradoxa, welche was unvermuthetes vortragen, kan man fast mit Händen greiffen. Die Epamorthosis oder der Wiederruf hat in fast allen Gegenbewegungen Statt. [...]

[...]

<244> §. 50. Vor Zeiten haben unsere gelehrte Musici gantze Bücher in ordentlicher Lehr=Art, von blossen Sing=Manieren [...] zusammengetragen. [...]

§. 51. Allein, da sich die Sachen fast jährlich ändern, und die alten Manieren nicht mehr Stand halten wollen, eine andere Gestalt gewinnen, oder auch neuern Moden Platz machen; so siehet man solche Vorschriften zum Theil mitleidend an, und würde sich, wenn man schon dergleichen nach heutiger Weise entwerffen wollte, in ein paar Jahren vieleicht eben so bloß stellen müssen, als jene. [...]

[...]

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