Mattheson: Orchestre 1 - Einführung

Einführung

Die Anekdote ist hinlänglich bekannt, wie Johann Mattheson (1681-1764) und Händel anläßlich einer Hamburger Opernaufführung in Streit gerieten und zum Duell antraten, wobei ein Mantelknopf es glücklicherweise verhinderte, daß Mattheson seinen Kollegen mit dem Degen erstach. Immerhin: der Satisfaction war Genüge getan, und die beiden Musiker verband fortan eine aufrichtige Freundschaft bis an ihr Lebensende.

Mattheson wußte sehr wohl, was sich für einen "galant homme", für einen Mann von Welt, ziemte - nicht nur auf dem Feld der Ehre. Als Kirchenmusiker, Sänger und Opernkomponist vollauf beschäftigt, fungierte er zudem als Privatsekretär des englischen Botschafters. Daneben verfaßte er zahlreiche musiktheoretische Schriften, die sich im gesamten 18. Jahrhundert einer großen Wertschätzung erfreuten. All diese Tätigkeiten scheinen ihm leicht von der Hand gegangen zu sein, so daß man sich an Castigliones Cortegiano von 1528 erinnert fühlt, wo es heißt, man dürfe dem vollendeten Hofmann bei seinen Verrichtungen keine Mühen und Anstrengungen anmerken.

Das Ideal der Leichtigkeit durchzieht auch Matthesons erste musiktheoretische Schrift. "Das Neu=Eröffnete Orchestre" ist insofern ein Novum, als hier erstmals kein Lehr- oder Handbuch für Berufsmusiker vorgelegt wird, sondern die Abhandlung richtet sich ausdrücklich an den interessierten Musikliebhaber, der zwar seinen Geschmack bilden und "geschicklich von dieser vortrefflichen Wissenschafft raisonnieren" möchte, der aber keinen Bedarf an einer tiefschürfenden Unterweisung im Tonsatz hat.

Entsprechend zwanglos hat Mattheson sein Werk strukturiert: Zunächst versucht er, die Musik (vor allem die theatralische Musik) aus den Fesseln der Theologie zu befreien - eine argumentative Gratwanderung, weil er nicht den Zorn der hamburgischen protestantischen Eiferer auf sich ziehen möchte.
Es folgt ein ausführlicher Teil über die gängigen musikalischen Fachbegriffe, wobei die Prinzipien des korrekten Tonsatzes nur am Rande berührt werden. Wichtiger als das starre Regelwerk der Stimmführung und Harmonielehre ist ihm die "Galanterie", die sich allerdings nicht erlernen läßt, sondern nur durch einen guten Geschmack und durch ein gesundes Urteilsvermögen sich entwickeln kann. Was "Galanterie" aber letztlich bedeutet, kann Mattheson nur mit Hilfe von Bildern umschrieben.
Eine große Rolle spielt bei Mattheson zudem die Unterscheidung von französischem, italienischem und deutschem Stil - ein Thema, das im Laufe des 18. Jahrhunderts die Musikästhetik dominiert. Und zu guter Letzt fügt er eine ausführliche Übersicht über die Affekte der verschiedenen Tonarten und die Charaktereigenschaften der Instrumente an.

Matthesons drei Orchestre-Schriften (dem ersten Band folgten 1717 Das beschützte Orchestre und 1721 Das forschende Orchestre) fanden beim Publikum großen Anklang - eben weil sie allgemeinverständlich waren. Damit war eine wichtige Voraussetzung geschaffen, daß die Diskussion über musikästhetische und stilistische Fragen im 18. Jahrhundert nicht mehr nur einem kleinen Kreis von musikalischen Spezialisten vorbehalten blieb. Auf der anderen Seite mußte Mattheson aber auch Kritik einstecken - vor allem von Seiten der Theologen und jener konservativen Musikerkollegen, die in seinen "freigeistigen" Ansichten einen Aufruf zu Sittenverderbnis und musikalischer Anarchie witterten.

Trotz aller "Galanterie" und Leichtigkeit sind Matthesons Orchestre-Schriften durchsetzt mit Anspielungen und intellektuellen Feinsinnigkeiten, die der zeitgenössische (hamburgische) Musikliebhaber sicherlich zu deuten und zu schätzen wußte, die aber der heutige Leser nur noch mit Mühen und einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat nachvollziehen kann. Aus diesem Grund beschränkt sich die Online-Fassung nur auf diejenigen Passagen, die für die Fragen der historischen Aufführungspraxis von unmittelbarem Interesse sind. Daß die massiven Textkürzungen sich auf den stilistischen Gestus der Abhandlung auswirken, wurde dabei bewußt in Kauf genommen.

Das Neu=Eröffnete Orchestre ist 1997 als Reprint im Georg Olms Verlag (Hildesheim) erschienen. Eine Kassette mit allen drei Orchestre-Bänden ist seit längerem im Laaber-Verlag angkündigt.

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