Mattheson: Orchestre 1

PARS SECUNDA, COMPOSTORIA.
Oder Von der MUSICALIschen COMPOSITION und dem CONTRA-PUNCT an sich selbst.

CAPUT PRIMUM.
Von den GENERAL-REGULn der CON- und DISSONANTIen.

[...]

<104> § 3. Es gehören sonst zu einer COMPOSITION dreyerley: INVENTIO, (Die Erfindung) ELABORATIO, (Die Ausarbeitung) EXECUTIO, (die Ausführung oder Aufführung) welches eine ziemliche nahe Verwandtschaft mit der ORATORIE oder RHETORIQUE (Rede=Kunst) an den Tag leget; Die beyden letzten Stücke können erlernet werden; zum ersten hat sich noch kein tüchtiger MAITRE, wohl aber [...] diebische Schüler finden wollen / die / was sie nur von frembder INVENTION aufschnappen können / wegstehlen. [...]

Daß sich aber kein MAITRE findet / einem die INVENTION beyzubringen / solches kommet daher / weil sie QUALITATEM INNATEM NON VERÒ ACQUISITAM (keine zu erlangende / sondern eine angeborhrne gute Eigenschafft) erfordert / daß also einer / der einer INVENTION zu suchen / eine Kunst nennet / eben so sehr irret / als <105> der einen HABILEN PASTOREM vor einen kunstreichen Prediger schelten wolte. Was die bekanten LOCI TOPICI, it. Die mächtige ARS COMBINATORIA dazu helffen / und vor Wunder=Wercke bey der INVENTION verrichten / solches mag einer wissen / der seine armseelige Zuflucht zu dem barmherzigen Vers nehmen muß: QUIS, QUID, UBI, QUIBUS AUXILIIS, CUR, QUOMODO, QUANDO.

[...]

§ 5. Was demnach die General=Reguln der COMPOSITION, die einem GALANT HOMME zu wissen nöthig sind / betrifft /

(1.) So ist die erste und vornehmste: Daß man Cantable setze. H.E. daß sich alles / was man machet / es sey VOCAL- oder INSTRUMENTAL-MUSIC wohl singen lasse.

(2.) Daß sich in der Vocal-Music Text <106> und Noten vor allen Dingen wol zu sammen reimen / und die in den Worten steckende Emphasis, nebst den Distinctionen / als Comma, Colon &c. wol in acht genommen / und geschickt exprimiret werden. Als worin mit Recht die MUSICALISCHE RHETORIC stecket.

[...]

(5.) Daß man sich der Abwechselung / so viel es ohne haseliren geschehen kan) befleißige / weil nichts in der Welt so sehr nach der Veränderung schnappet / als eben die MUSIC, darum man das CHANGEMENT wol ohne grosses Unrecht ihr ELEMENT nennen möchte.

[...]

CAPUT SECUNDUM.
Von den SPEZIAL-REGULn der CONSONANTIEN.

<114>

[...]

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CAPUT TERTIUM.
Von den SPEZIAL-REGULn der DISSONANTIEN.

<122> [...]

<126> § 5. [...] daß die Zahlen in der MUSIC nicht DECIDIren / sondern <127> nur INSTRUIren; Das Gehör aber allein der CANAL sey / durch welchen ihre Krafft in das innerste der Seelen eines aufmercksamen Zuhörers eindringet. Und weil denn also [...] der Zweck der MUSIC nicht das Gesicht / noch der eigentlich so genandte Verstand ist / sondern eintzig und allein das Gehör / welches der Seelen und dem Verstands / die Ergetzung / so es empfindet / mittheilet / so ist kein Zweifel / daß nicht alle und jede MUSIC, nachdem sie zuvor / benöthigter massen / nach den Kunst=Sätzen EXAMINIret und entworffen ist / diesem Zweck zu folge / blosserdings und vor allem / dem Gehör zu gefallen / sich müsse einrichten lassen / und daß man dahero schlechte Ursachen habe / eigensinniger Weise / und auf eine gezwungene Art / diejenigen Wege zu erwehlen / welche uns eine Wissenschafft (nemlich <128> die ARITHMETIC) anzeiget / die zwar eine gute Gefährtinn / hierinn aber keine unbetriegliche Wegweiserinn abgeben mag. [...]

[...]

<137> § 19. Zum Beschluß dieses Capitels möchte noch überhaupt angemerckt werden / daß / da man sonst zu einer bereits verfertigten COMPOSITION nur die zwey Stücke / nemlich: MELODIAM & HARMONIAM erfordert / man bey jetzigen Zeiten sehr schlecht bestehen würde / wofern man nicht das dritte Stück / nemlich die GALANTERIE hinzu fügte / welche sich dennoch auf keine Weise erlernen noch in Reguln verfassen läst / sondern bloß durch einen guten GOUT und <138> gesundes JUDICIUM ACQUIRIret wird. Wolte man eine COMPARAISON haben / und wäre der Leser etwan nicht GALANT genug / zu begreiffen / was die GALANTERIE in der Music bedeute / so könte ein Kleid dazu nicht undienlich seyn / als an welchem das Tuch die so nöthige HARMONIE, die FAÇON die geziemende MELODIE, und denn etwann die BORDERIE oder BRODERIE die GALANTERIEN vorstellen möchte.

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CAPUT QUARTUM.
Von der COMPOSITION unterschiedenen Arten und Sorten.

<138> [...]

<139> § 2. Gleichwie in STYLOS MUSICOS, nemlich ECCLESIAE, THEATRI & CAMERAE, der erste den Platz und Rang hat / so stehet auch unter den vielfältigen Arten der COMPOSITION der CHORAL (À CHORO also genandt) wol billig oben an [...] Man siehet es genugsam aus denen in der christlichen Kirchen eingeführten schönen HYMNIS, Psalmen und andern Gesängen / was für eine Krafft ihre COMPONISTEN von oben herab gehabt haben / daß solche geistliche MELODIEN, wider alle Veränderung / so lange Zeit schon bewahret und erhalten worden sind; dadurch es geschiehet / daß dieselben eine beständige APPROBATION bey uns finden;Jederzeit Trost / Freude und Vergnügen erwecken; und ein jeder / der niemahls MUSIC gelernet / solche CHORALE leicht fassen / und behalten; von Natur fast genau unterscheiden / und auch der einfältigste Mensch bey ihrer <140> Absingung eine gar sonderliche heilige Andacht bey sich verspühret. [...] Es bestehet aber solche COMPOSITION der CHORAL-Gesänge / oder solte vielmehr in diesem dreyen Stücken bestehen: (1) daß sie einen gewissen MODUM habe / (2) keine kleinere Noten als die SEMIBREVES, und (3) selten einen andern TACT ADMITTIre als den EGALEN. [...]

<141> § 3. Den CHORALEN folgen mit recht die MOTETTI, welche meines wenigen erachtens / mit mehrer RAISON À MOTU, als MOTTO und MUTARE, deren eines ein Wort / das andere / verändern heist / führen [...] Es sind aber diese so genannten MOTETTI gemeiniglich lateinische Kirchenstücke / die vormahls bloß aus Singstimmen <142> bestunden / und aus lauter Fugen zusammen gesetzt waren; nunmehro aber dehnet man die Bedeutung dieses Wortes weiter aus / und macht MOTETTI, so wol mit INTRUMENTAL- als VOCAL-Chören. Weil sie aber nicht gern ein SOLO leiden / sondern in steter Bewegung eine Fuge nach der andern anfangen / und durch alle Stimmen auch reine ausführen / auch billig keine / oder doch nur einen gar geringen Absatz oder GENERALen Einhalt haben solten [...]

[...]

<160> § 19. Unter den weltlichen Sachen behalten ja nun wol die THEATRALISCHEN / und unter diesen die geehrten OPERN ohnstreitig den Vorzug / weil ma n in selbigen gleichsam einen CONFLUXUM aller MUSICALIschen Schönheiten antreffen kan. Da hat ein COMPONIST rechte Gelegenheit seinen INVENTIONIBUS den Zügel schießen zu lassen! da kan er auf unzehlige Art Liebe / Eifersucht / Haß / Sanfftmuth / Ungedult / Begierde / Gleichgültigkeit / Furcht / [...] ja Himmel / Erde / Meer / Hölle / und alle darinn vorkommende Verrichtungen (wenn anders das Gesicht den Ohren nur ein wenig Verstand leisten will) <161> mit tausenderley Veränderungen und Anmuth sehr natürlich abbilden. [...]

<164> § 20. Was sonst die THEATRALISCHE MUSIC anlanget / so solte sich dieselbe billig [...] nach dem SUJET oder nach der MATERIE richten dieweil das SUJET nicht die MUSIC, sondern diese jenes zu zieren / da ist. Denn das rechte CORPUS aller Schauspiele sind COMOEDIEN oder TRAGOEDIEN [...] welche man nur zum Zierrath die MUSIC anleget / und es wegen der OPERÖSEN Verrichtung eine OPERA nennet / so gar / daß man im Anfang sehr viel wider diesen HABIT [...] einzuwenden hatte / und diejenigen auslachen dürffte / die in einem solchen DRAMATE alles mit einander ohne Ausnahme gesungen haben wolten. [...] <166> Uber dem weiß ja ein jeder / daß OPERN und dergleichen nur Schertz= und Lust= aber keine ernst=Spiele / und kan dannenhero nicht böse werden / daß man zu der Zuschauer Vergnügen / auch alles was Menschen schönes und künstliches haben / hervor suche. Ferner ist es in diesem Stück mit dem THEATRO als wie mit einem Gemählde beschaffen. Denn wer in der Mahlerey der blossen Natur gar zu genau folgen will / der wird <167> nimmer REÜSSIren / ja nicht einmahl eines Mahlers / sondern nur eines COPIIsten Nahmen verdienen: also / wer in SCENICIS nichts vorstellen wolte / als die SIMPLE Natur / ohne einigen Zierrath / der würde blutschlecht ankommen / und wenige SURPRISEN machen. Leidet nun nicht allein beydes Mahlerey und THEATRUM / sondern erfordert ausdrücklich / und auff alle Weise / hier eine Versteckung und Verbergung derjenigen Sachen / die zwar natürlich sind / aber nicht À PROPOS kommen / dort ein ADDIMENTUM oder Zusatz solcher Dinge / die / ob sie gleich nicht so gar natürlich / als eine Pfeiffe Toback / sind / sich doch sehr wol schicken und zur ungemeinen Zierde dienen; wieviel weniger soll man die singende Menschen=Stimme / die ja ungleich höher zu ahcten / als die redende / vom THEATRO gleichsam verbannen / oder nur in gewissen wenigen Fällen aus sonderbaren Gnaden / statt finden lassen; zumahlen / da durch des COMPONISTEN und der Sänger Geschickligkeit alle und jede AFFECTUS, besser als in der ORATORIE, besser als in der Mahlerey / besser als in der SCULPTURE, nicht allein VIVâ VOCE schlecht weg / sondern mit Zuthun einer CONVENABLEN ACTION, und hauptsächlich vermittelst <168> Herz=bewegender Music, gar schön und natürlich mögen EXPRIMIret werden. [...]

<169> § 21. Auf die Opern folgen die PASTORALS / (Schäfer=Spiele) OPERETchen und BALLETS, welche jederzeit so wol ihrer Kürtze als Lustigkeit wegen solche APPROBATION gefunden / daß einen fast wundern möchte / warum man noch fortfähret 6. bis 7. Stunden=lange OPERN zu machen / da man doch mit den kleinen PIEÇEN [...] mehr Ergetzligkeit zuwege bringen kan / und hergegen weniger Mühe / weniger Lernens / weniger Zeit / und weniger Unkosten anzuwenden hat. [...]

<170> § 22. Unter allen PIEÇEN, die INSTRUMENTALITER EXECUTIret werden / behält ja wol PER MAJORA die so genandte OUVERTURE das PRAE. Ihr eigentlicher Platz ist zu Anfang einer OPERA, oder eines anderen Schau=Spiels / wiewol man sie auch vor SUITEN und übrigen Cammer=Sachen setzet. Wir haben ihre INVENTION den Frantzosen zu dancken / die sie auch am allerbesten zu machen wissen. Eine OUVERTURE hat den Nahmen vom Eröffnen / weil sie gleichsam die Thür zu den SUITEN oder folgenden Sachen auffschliesset. Sie leidet hauptsächlich 2. Eintheilungen / deren erste einen EGALEN TACT und ordentlicher weise den 2. halben haben wird / <171> dabey ein etwas frisches / ermuntrendes und auch zugleich elevirtes Wesen mit sich führet [...] Der andere Theil bestehet in einem / nach der freyen INVENTION des COMPONISTEN eingerichteten / BRILLIRENden THEMATE, welches entweder eine REGULIERE oder IRREGULIERE FUGE, bisweilen und mehrentheils auch nur eine blosse oder lebhaffte IMITATION seyn kan. Die meisten Frantzösischen OUVERTUREN schliessen nach dem ALLEGRO, oder anderen Theile der OUVERTURE, wiederum mit einem kurtzen LENTEMENT, oder ernsthafften Satze; allein es scheint / daß diese FAÇON nicht viel ADHAERENTEN finden will.

§ 23. SYMPHONIE, SIMPHONIA, heisset IN GENERE alles was zusammen klinget / IN SPECIE aber bedeutet es / eine solche COMPOSITION die allein auf INSTRUMENTEN hervorgebracht wird. In dieser Art hat ein COMPONISTE völlige LICENTZ und ist an keine Zahl noch Maasse STRICTÈ gebunden <172> / sondern darf sich deren so viel / und welche er will / nach eigenem Gefallen / doch so / daß kein unförmlicher CHAOS daraus werde. Die Italiäner bedienen sich dieser SORTE vor ihren OPERN und andern DRAMATIschen Wercken / so wol / als auch vor Kirchen=Sachen; vor jenen an statt der OUVERTUREN, vor diesen aber an statt der SONATEN. Gemeiniglich fangen sie / (sonderlich die vor weltlichen Sachen gehören) mit einem etwas BRILLIrenden und dabey majestätischen Wesen an / allwo nicht selten die Haupt=PARTIE sonderlich zu DOMINIren pfleget [...] Es ist inmittelst von den SYMPHONIEN eben nichts unumstoßliches zu melden / weil ein jeder seinen Einfällen darinn folget [...]

§ 24. INTRADEN brauchen die Italiäner gleichfalls <173> an statt der OUVERTUREN in weltlichen Sachen. [...] Sie haben [...] ein PATHETIsches / zur ATTENTION bequemendes / INTONIrendes Thema, und vollstimmiges Wesen / ohne FUGEN, auch sind sie dabey kürtzer zu fassen / als die SYMPHONIEN.

§ 25. AUBADEN sind solche MUSIQUEN / die bey früher Morgens=Zeit (A L'AUBE DU JOUR, bey anbrechendem Tage) SERENADEN oder SERENATE aber / die bey spähter Nacht aufgeführet werden / ALIÀS Ständchen / und bestehen beyde aus GRATULATIONEN, Liebes=DECLARATIONEN und dergleichen. Sie mögen mit oder ohne INSTRUMENTE gesetzet werden. Das ACCOMPAGNEMENT aber gibt ihnen viele GRACE.

§ 26. CONCERTE, LATÉ genommen / sind Zusammenkünffte und COLLEGIA MUSICA; STRICTÉ aber wird diß Wort nicht selten von einer so <174> wol VOCAL- als INSTRUMENTAL-Cammer=MUSIC; (i.e. ein Stück das eigentlich also heisset) STRICTISSIMÉ, von VIOLIN Sachen / die also gesetzet sind / daß eine jede PARTIE sich zu gewisser Zeit hervorthut / und mit den andern Stimmen gleichsam um die Wette spielet / genommen. Derowegen denn auch in solchen Sachen und anderen / wo nur die erste PARTIE dominiret / und wo unter vielen VIOLINEN, eine mit sonderlicher Hurtigkeit hervorraget / dieselbe / VIOLINO CONCERTINO, genennet wird.

§ 27. SUITEN sind solche INSTRUMENTAL-Sachen / die erstlich eine OUVERTURE, SYMPHONIE oder INTRADE, und nachgehends nach des COMPONISTEM Gutbefinden eine gantze Reihe allerhand PIEÇEN, als da sind: ALLEMANDEN, COURANTEN, und so weiter / in sich begreiffen. Eigentlich werden solche SUITEN fürs CLAVIER gesetzet / und denn pflegen sie an statt der OUVERTURE auch wol eine TOCCATA zu haben; am meisten aber für allerhand gebräuchliche INSTRUMENTE, jedoch mit einem vom CLAVIER gantz differierenden STYLO; denn Z.E. da eine ALLEMANDA, für vielerley INSTRUMENTE gesetzet / <175> in der obersten Stimme allein eine richtige und PRAEDOMINIrende MELODIE behält / so hat sie hergegen solche MELODIE auf dem CLAVIER zertheilet und zerbrochen / daß alle Mittel-Stimmen daran theil nehmen / und was des Unterscheids mehr.

§ 28. SONATA ist eine Art INSTRUMENTAL- insonderheit aber VIOLIN-Sachen / die in abgewechselten ADAGIO und ALLEGRO bestehet / nunmehro schier etwas zu veralten beginnen will ( und von den neuern so genanten CONCERTEN und SUITEN ziemlich ausgestochen und hintangesetzet / auff dem vollstimmigen CLAVIER aber gleichsam von frischen wieder belebet worden ist [...]

§ 29. BOUTADEN und RICERCATE, sind eine alte FAÇON solcher Sachen / die etwa für ein INSTRUMENT allein gesetzet sind. / und sich nach nichts als der Fantasey richten. Insgemein sind diese Wörter / wie auch die so genanten <176> SUBJECTA bey der VIOLA DI GAMBA gebräuchlich und nicht GENERAL. PHANTASIA oder FANTASIA, hat fast eben die Bedeutung / wiewol man deren die meisten unter CLAVIER-Sachen antrifft / desgleichen auch TOCCATEN, die sonst keinem INSTRUMENTO, als dem CLAVIER und der Orgel zukommen / auch nach der CAPRICE des AUTORIS eingerichtet werden / dahero sie denn / wenn eine kleine Veränderung von FUGEN oder andern Sachen dazu kommt / nicht unrecht den Nahmen CAPRICCIO führen. TOCCATINE sind kleine PIEÇEN eben dieser Art / haben so wol als die TOCCATE ihren Nahmen von TOCCARE, welches bey den Italiänern eigentlich das CLAVIER-Schlagen bedeutet. PRAEAMBULA und PRAELUDIA sind auch unter der Zahl solcher CLAVIER-Sachen / richten sich aber bloß nach des Meisters INTENTION, und wollen gemeiniglich gerne ohne genaue OBSERVIrung des TACTES, gleich den TOCCATEN, TRACTIret seyn. Hieher gehören alle sonst auf diesem edlen INSTRUMENT übel=INVENTirte BIZARRE Stückchen / als Guckguck / Nachtigall / BATTAILLEN und dergleichen BAGATELLEN / die aber bey Leuten von gutem GOUT mehr vor RIDICUL als PLAISANT PASSIren.

<177> § 30. CANTATEN sind VOCAL-Sachen / die mehr ATTENTION MERITIren. Ihr SUBJECTUM, verstehe der TEXT, ist gemeiniglich eine gewisse / entweder wahre oder fingirte Erzehlung und REPRAESENTATION, deren unterschiedene Vorfälle durch eben so vielerley MUSICALIsche MOUVEMENTS EXPRIMIret werden. Sie bestehen aus einer Abwechselung zwischen ARIEN, RECITATIV, ARIETTEN, ARIOSO, OBLIGATO, und sonst anderen veränderlichen Sätzen / nach Erfordern der Worte / und Gutbefinden des COMPONISTEN. Jedoch ist die beste / kürtzeste und bequemste / auch am meisten aPPROBIRTEste Art / wenn eine CANTATE mit einer ARIA angefangen / durch ein RECITATIV vermittelt / und wieder mit einer ARIA beschlossen wird. [...] <178> CANTATEN mit 2. und mehr VOCAL-Stimmen sind RAR / aber wenn sie wohl gemacht / hoch zu AESTIMIren. [...]

<179> § 31. [...] Eine ARIA ist GENERALEMENT eine jede MELODIE, sie werde VOCALITER oder INSTRUMENTALITER hervorgebracht; IN SPECIE aber ist es eine gesungene MELODIE, die sich nach Beschaffenheit der Worte zu richten / und nach Befinden entweder an ein ander zu schliessen / oder in zwey Theil zu SEPARIren pflegt. [...] also daß nunmehro eine jede ARIA zwey Haupt=Theile / und wenigstens eben so viele / wo nicht mehr Absätze hat / damit allda die Stimme ein wenig PAUSIren und Athem hohlen / und mit den <180> INSTRUMENTEN oder dem GENERAL-BASSE, die gantze ARIA durch hin und wieder zu EMBELLIren / Gelegenheit gefunden werden möge. Die jetzund am meisten beliebte Arte der ARIEN, schliesset so / wie sie angefangen / und solches nennet man ein DA CAPO. [...] Eine Veränderung des TACTES in einer ARIA wird nicht ohne Noht / und gleichmäßiges CHANGEMENT des METRI POETICI geschehen.

§ 32. RECITATIV ist eine Art zu singen / die einer <181> DECLAMATION, öffentlichen Rede oder Erzehlung fast so ähnlich ist / als einem Gesange / wobey man folglich mehr REGARD vor die zu EXPRIMIRende PASSIONES hat / als vor die REGULIERE OBSERVANZ der MENSUR: Gleichwohl hindert ein solches nicht / die Noten in einen richtigen TACT zu bringen [...]

<182> § 33. ARIETTE, das DIMINUTIVUM von ARIE, sind kleine ARIEN / welche gemeiniglich / obwohl nicht allezeit / zwey REPRISEN oder Wiederholungen haben / und auf GAVOTTEN, MENUETTEN, SARABANDEN, und andere Art gesetzet werden. ARIOSO oder OBLIGATO ist ein Satz im RECITATIV, bißweilen in der Mitte / bißweilen am Ende / wie es etwan die die nachdrücklichsten Worte erfordern / der / wie eine ARIE, nach dem TACT gesungen zu werden, OBLIGIret ist.

§ 34. Ein OBLIGATER BASS aber hat mit dem RECITATIV nichts zu thun / und sonst zweyerley Bedeutung / welche hier zu SPECIFICIren nicht eben so gar MAL À PROPOS seyn dürffte. Die erste Bedeutung ist: Wenn sich der COMPONIST ein gewisses SUJECTUM im BASS erwehlet und vorgesetzet / ohne von demselben / (es sey denn gar wenig oder in der REPERCUSSION) abzuweichen / und solches STRICTÈ die ganze PIEÇE durchführet / so daß die DOMINIrende oder MELODIEUSE Parthey darnach eingerichtet wird. Die andere Bedeutung ist / wenn man sich vornimmt / <183> eine gantze ARIE oder dergleichen / im BASSE mit NOTEN von einerley Gat= und Geltung ohne INTERRUPTION auszuführen / ohne daß ein gewisses THEMA dazu erwehlet werde / und sind die Achtel=NOTEN, auch wol bißweilen die Sechszehntel / dazu die bequemsten und gebräuchlichsten; ein solches Stück oder ARIA hat mit recht einen OBLIGATEN BASS.

§ 35. CAVATA ist eine sonderliche Art grosser und ungemein wol ausgearbeiteter ARIEN, so schwerlich ohne ACCOMPAGNEMENT werden gesetzet werden. CAVATO, EN JARGON, oder CORRUPTÈ, bedeutet etwas / das nach Wunsche geglücketoder gar wol abgelauffen ist / wovon diese SPECIES auch zweifels frey ihre Benennung haben mag.

§ 36. Was RITORNELLO oder RITOURNELLE sey / ist schon oben PAR PARENTHESE § 31. benöthigter massen gesaget worden. Ihren Gebrauch aber in THEATRALIschen Sachen anlangend / so haben sie ihre gewöhnliche Stelle hinter den ARIEN, die ohne INSTRUMENTEN gesetzet sind / <184> doch niemahls billiger / als wenn die Person / welche die ARIE gesungen / abtritt / und wo sonst die SCENA ein VACUUM hat / in welchem letztern Fall man auch wol den mit INSTRUMENTEN gesetzten ARIEN noch über dem ein À APARTES RITORNELLO anhänget. Auch wird derjenige Satz / womit die INSTRUMENTEN eine ARIA anfangen und endigen / ein RITOURNELLE genennet / welches aber mit dem vorigen nicht zu CONFUNDIren.

§ 37. CIACONA oder CHACONNE ist eine INSTRUMENTAL, oder VOCAL, auch wohl von beyden zusammen gesetzte PIEÇE, welche einen OBLIGATEN BAß, und gemeiniglich ein SUBJECTUM von 4. TACTEN im TRIPEL hat / der so offt wiederholet wird / als die CHACONNE COUPLETS oder VARIATIONES darüber MODULIren [...] soll. [...] <185> Aller Unterschied / der zwischen einer CIACONA und PASSACAGLIO oder PASSECAILLE ist / bestehet darinn / daß diese mit grösserer Freyheit vom vorgesetzten THEMATE im BASSE weichen darff / als jene / daneben eine GRAVITAETIschere und DELICATEre Sing=Art / unmaßgeblich auch die Eigenschafft hat / daß man sie gern aus dem MOLL, hingegen die CHACONNEN mehrentheils aus dem so genannten MODO DURO, [...] setzet. Was sonst die ETYMOLOGIE des Wortes PASSACAGLIO betrifft / davon habe diese wenige poßierliche Gedancken / daß / weil die PASSECAILLE so wol als die CIACONA zum Tantzen gebraucht werden / es so viel bedeuten könne / als eine Vertreibung der Hüner=Augen / oder vielmehr eine PRAESERVATION davor; denn erstl. heisset CAGLIO in Italiänischer Sprache würcklich ein solches INCOMMODES Fuß=Gewächse / und vors andere wird / wer PASSACAGLIE, als etwas schweres tantzen will / sich gerne von dieser Plage PASSIren wollen. [...]

§ 38. ALLEManda ist eine ernsthaffte MELODIE <186> vor INSTRUMENTE / nimmer aber vor Sing=Stimmen; sie haben beständig einen Vierviertel=Tact und zwey REPRISEN; beyde fast gleicher Länge. Ihr gröster Gebrauch ist auf dem CLAVIER / und die Teutschen sind inimitables in dieser Gattung.

§ 39. COURANTE oder CORRENTE ist eine im TRIPEL-TACTE lauffende lebhaffte MELODIE, ebenfalls hauptsächlich auf INSTRUMENTEN, insonderheit auf dem beliebten CLAVIER gebräuchlich. [...] Die Teutschen machen die COURANTEN vors CLAVIER; die Italiäner vor die VIOLONS; die Frantzosen aber vors Tantzen / am besten / also / daß ein so grosser Unterscheid unter den COURANTEN ist / als zwischen Händen und Füssen. [...]

<187> § 40. SARABANDA ist eine GRAVITAETIsche / denen Spaniern insonderheit sehr beliebte und gebräuchliche etwas kurtze MELODIE, welche allezeit den TRIPEL-TACT, langsam geschlagen / und zwey REPRISEN hat / zum Tantze À L'ESPAGNOLE mit CASTAGNIETTEN, ITEM zu einer singenden ARIETTE gar geschickt ist.

<188> § 41. ENTRÉE ist ebenmäßig eine SERIEUSE ARIE mit zwey REPRISEN, aber bloß vor INSTRUMENTE; sie siehet dem ersten Theil einer OUVERTURE nicht unähnlich / nur daß die letzte REPRISE eben de Art ist wie die erste. Insgemein theilt sich ihr Tact in zwey gleiche / und ihr Gebrauch ist zum Tantzen oder INTERSCENIO, das ist / zum Zwischen=Spiel in einer OPERA &C.

§ 42. RIGAUDON [...] ist ein lustiger / auch in gerader MENSUR bestehender Tantz / bey REJOUISSANCEN und GROTESQUE BALLETS gebräuchlich. Ihr Tact ist C. Hat aber insgemein 3. bis 4. REPRISEN, wovon die dritte gantz kurtz und BADINE zu seyn pfleget. Wer auf einem RIGAUDON, auff einer ENTRÉE u.s.w. Worte haben und dieselben singen will / wie offt CAVALLIEREMENT geschieht / dem ist es unverboten / und alsdenn PASSIren sie alle vor ARIETTEN.

§ 43. BOURÉE hat ordentlich einen Vierviertel Tact / und deren 4. in der ersten / und 4. in der andern und letzten REPRISE, dafern sie zum Tantzen <189> DESTINIRET, sonst nimmt man sich LIBERTÉ. Sie haben übrigens ein DACTYLIsches METRUM, so daß gemeiniglich auf ein Viertel zwey Achtel folgen / und der Anfang mit dem letzten Viertel des Auffschlages gemacht wird [...]

<190> § 44. RONDEAUX kan man so wol zum Singen als Spielen und Tantzen / IT. im EGALEN oder INEGALEN TACT AD LUBITUM setzen / ohne sich weiter an etwas zu binden / als VIVACE zu gehen / daneben 3. oder 4. Absätze ohne REPRISEN darinn zu machen / und bey jedem Einhalt das RONDEAU (I.E. den allerersten Satz / welcher eigentlich RONDEAU heißet und in dem Haupt=Thon / daraus die PIEÇE gehet / schliessen muß) ausser selbigen aber keines / REPETIren / auch damit endigen. [...]

§ 45. PASSEPIEDS sind eine Art gar geschwinder MENUETTEN, darum sie auch den 3/8. oder 6/8. Tact erforden / und 3. bis 4. REPRISEN ADMITTIREN / sie sind bloß zum Tantzen gemacht / und fangen gemeiniglich mit des Auffschlages <191> letztem Achtel an. [...] Die dritte REPRISE pfleget auf die Art wie die dritte in dem RIGAUDON kurtz und tändelnd eingerichtet zu werden.

§ 46. GAVOTTEN sind Tänze (auch wol Sing=ARIETTEN) mit 2. REPRISEN, deren die erste ordentlich 4. die andere aber 8. Tacte der EGALEN MENSUR 2. halber haben wird / und bißweilen hurtig / bißweilen langsam gehen. Da eine BOURÉE [...] mit dem letzten Viertel des Auffschlages anfänget / so braucht eine GAVOTTE die zwey letzten dazu [...] Ihre erste REPRISE soll nicht in dem Thon schliessen / daraus die GAVOTTE gehet / es sey denn / daß man ein RONDEAU, welches offt geschiehet / daraus machen wolle. Doch hat es seine EXCEPTIONES. [...]

<192> § 47. CANARIES sind sehr geschwinde / aber dabey kurtze GIQUEN, haben den 3/8. Tact / und die ersten NOTEN in jedem Tact sind mehrentheils mit einem Punct versehen / da denn die folgende ein Sechszehntheil wird [...] Sie haben [...] 2. kurtze REPRISEN, und ihren Nahmen ohne Zweifel von den so genandten CANARIEN-Insuln / als woher sie gebürtig seyn mögen. Eine ORDNAIRE GIQUE aber hüpffet nicht so sehr als eine CANARIE, hat 3. 6. auch wol 12/8. Tact / und COULIret etwas mehr / wiewol ihre Natur hurtig ist / und 2. REPRISEN hat. LOURES sind gar langsame GIQUEN und jetzund sehr EN VOGUE; ihr Tact ist 6/4. wol PUNCTIrt / und die PUNCTA wol ausgehalten. Das TEMPO der LOUREN wird sehr offt mit SUCCES zu Sing=ARIEN gebrauchet.

§ 48. MARCHE ist eigentlich eine SERIEUSE, doch dabey frische ermunternde MELODIE, welche ihren eigentlichen Sitz vor den TROUP auff der <193> PARADE hat / doch findet sie auch in THEATRALIschen Auffzügen und in SUITEN statt; Eine MARCHE hat mit einer ENTRÉE große Gemeinschafft / nur daß jene mehr PASSAGEN als diese ADMITTIret.

§ 49. MENUETTEN wird wol ein jeder kennen / aber eben so genau nicht wissen / daß sie uhrsprünglich aus der Frantzösischen PROVINCE POITOU herkommen [...] Ihre MENSUR ist ein TRIPEL, nemlich 3/4. Welcher aber gewöhnlicher Weise fast wie ein 3/8. geschlagen wird. [...]

[...]

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