Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Einleitung

<V> Der Gedanke einer vergleichenden Klavierschule ist nicht ganz neu, auch wenn man von der in der Einleitung zu Kullak's "Ästhetik des Klavierspiels" gegebenen knappen Inhalts-Übersicht der Werke von K.Ph.E. Bach (Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen, 1753), Marpurg (Anleitung zum Klavierspielen, 1765), D.G. Türk (Klavierschule, 1789), L. Adam (Méthode de piano, gegen 1800), Hummel (Anweisung zum Pianofortespiel, 1828), Kalkbrenner (Méthode de piano), Czerny (op. 500) und Köhler (Systematische Lehrmethode etc., 1857) absieht; eine ähnliche Übersicht in C.F. Weitzmann's "Geschichte des Klavierspiels und der Klavierliteratur" (2. Aufl. 1879, mit einer angehängten Geschichte des Klaviers), welches Buch gleichfalls empfohlen sei, ist noch weniger direkt für den Unterricht zu verwerthen, sondern mehr allgemein bildend und historisch orientirend; dagegen ging wohl Fétis bei der Abfassung seiner "Méthode des méthodes de piano" (1837) von einer ähnlichen Idee aus wie ich bei vorliegendem Buche, nämlich, die einander widersprechenden Ansichten über die einzelnen Zweige der Klavier-Pädagogik und -Technik zusammenzustellen und den Lehrer ev. Schüler auf diese bequemste Weise mit den strittigen Problemen vertraut zu machen. Der Umstand, dass Fétis' Schule zugleich das Übungsmaterial enthält, unterscheidet sie jedoch wieder scharf von der meinen, welche ursprünglich als "Klavierschule ohne Noten" in die Welt gehen sollte; die gänzliche Ausschliessung von Notenbeispielen im Text erwies sich jedoch als nicht wohl durchführbar und aus Gründen, die aus dem Buche leicht erkannt werden, sah ich mich auch bewogen, die Elementarlehre und die technischen Vorstudien neu zu bearbeiten und auch über die Ornamentik und die rhythmischen Probleme eine neue kleine Zusammenstellung zu machen. Besonders betreffs der technischen Vorstudien bedauere ich das einigermassen; ich hatte die Absicht, Plaidy's so verbreitete und mit Recht hochgehaltene "Technische Studien" in den Unterrichtsgang aufzunehmen, wie ich sie bisher beim Unterricht thatsächlich stets zu Grunde gelegt habe. Meine Schüler wissen aber, wieviel ich stets überzuschreiben und am Rande einzuzeichnen hatte.

<VI> Der Versuch, diese Ergänzungen der "Methode" einzuverleiben und es den Lehrern, welche sich meines Buches bedienen würden, zu überlassen, danach Plaidy zu vervollständigen, scheiterte daran, dass die Zusätze immer mehr anwuchsen. Es erschien mir schliesslich als ein grosser Rechenfehler, dem Schüler die Anschaffung von Plaidy zuzumuthen, wenn etwas vollständigeres und doch alles überflüssige meidendes sich billiger neu beschaffen liess.

Man schrecke nicht vor dem reichlich gegebenen Etüden-Material zurück; ich wüsste wirklich nicht viel davon als unnöthig auszuscheiden. Besonders befähigte Schüler mögen durch die Etüden von Köhler op. 50, Czerny op. 299, Cramer (Ed. Bülow), Clementi (Ed. Tausig), Moscheles op. 70 und Chopin (op. 10 und 25) in schnellerem Vorgehen einen Standpunkt entwickelter Technik erklimmen; es ist aber nicht recht abzusehen, warum nicht gerade diese begabteren, denen das Studium leicht wird, eine gründlichere Umschau halten sollen, die ihre Technik vollständig ausfeilt. Der minderbegabte aber darf solche Sprünge gar nicht machen, sondern muss das zusammengestellte Material vollständig durcharbeiten; es ist ihm besser, zu wissen, dass er, über Stufe III nicht hinauskommt, und er mag sehr zufrieden sein, wenn er auf dieser sich heimisch fühlen lernt. Schwerer möchte es mir dagegen werden, mich gegenüber dem Vorwurfe der Unvollständigkeit, der Übergehung vortrefflicher Studienwerke zu rechtfertigen. Allerdings verdiente wohl noch manches gute Etüdenwerk Berücksichtigung, von der Rubrik "Stücke" ganz zu geschweigen, die nur für die klassische Litteratur einigermassen orientirend sein kann; eine strenge Grenze musste aber hier wie dort gezogen werden, wenn meine Methode nicht in ein Litteraturverzeichniss ausarten sollte; die Wahl, die ich getroffen, hat denke ich, Widerspruch nicht zu fürchten, da sie sich auf das bewährte und wohl accreditirte beschränkt, Bleibt es doch jedem unbenommen, das, was er selbst als vorzüglich erkannt hat, an seiner Stelle einzuschalten und dafür eventuell anderes auszulassen!

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Vielleicht wird mancher, der sowohl mit dem "System" als der "Methode" einverstanden ist und sie beim Unterricht benutzt, <VII> es vorziehen, die technischen Studien nach Plaidy (s.o.), Knorr ("Materialien für das mechanische Klavierspiel" und "Das Klavierspiel in 280 technischen Studien"), L. Köhler (op. 70. "Mechanische und technische Studien"), Germer ("Die Technik des Klavierspiels"; vgl. dazu auch desselben "Rhythmische Probleme" und die vortreffliche didaktische Schrift "Wie spielt man Klavier"), Mertke ("Technische Übungen"), Breslaur ("Technische Grundlage des Klavierspiels"), L. Klee ("Tägliche Klavierübungen"), B. Ziehn ("System der Übungen für Klavierspieler") oder noch anderen zu ordnen, an die sie sich gewöhnt haben; sie möchten dann wenigstens nicht verabsäumen, den Anschlagsstudien und dynamischen Studien eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. - Manche anderen werden vielleicht nur von der Elementarlehre Gebrauch machen wegen der darin angebahnten bedeutungsvollen Neuerungen, denen ich einen hohen praktischen Werth beimesse; andererseits mögen wieder viele von ihrer durch langjähriges Unterrichten bewährten Methode für den Elementar-Unterricht nicht abgehen wollen, während ihnen vielleicht sonst vieles in meiner Schule zusagt - diese verschiedenen Möglichkeiten erwägend, hielt ich es für geboten, die ergänzenden Materialien gesondert von dem Buche und auch noch in einzelne Hefte geschieden herauszugeben. Ein weiter gehender Plan, im Anschluss an die Schule die wichtigsten Studienwerke, besonders die Sonaten von Beethoven, Mozart und Haydn mit genauer Bezeichnung der Phrasirung herauszugeben, wird nun auch zur Ausführung gelangen; [FN: Bd. I der Phrasierungs-Ausgabe (Mozarts Klaviersonaten) erscheint am 1. October d.J. bei N. Simrock in Berlin.] dass erst dadurch die Klavierschule ihren eigentlichen Abschluss finden wird, muss jedem, der dem dritten Theile des Systems näher tritt, klar werden. Doch sind die dem Unternehmen entgegenstehenden Bedenklichkeiten nicht zu unterschätzen, und wird erst die Klavierschule die nicht auffälligen aber bedeutsamen Neuerungen der Notenschrift vorbereiten müssen. Dass der gegenwärtige Wirrwarr in der Bogenbezeichnung eine Kalamität ist, darüber ist wohl nur eine Stimme; ob <VIII> es aber gerade mir beschieden sein wird, die nothwendige Reform durchzuführen - wer möchte das vorhersagen wollen? Jedenfalls glaube ich aber den rechten Weg gefunden zu haben in dem Zurückgehen auf die Grundformen der Taktmotive, aus welchen die Phrasen herauswachsen. Dass den Taktmotiven, jenachdem sie volltaktig oder ein- oder mehrfach auftaktig sind, verschiedene ästhetische Werthe zukommen, die eine bestimmte dynamische und agogische Schattirung bedingen

Notenbeispiel S. VIII

ist zwar eine neue Aufstellung, dürfte aber bald als Aufdeckung eines Gesetzes von allgemeiner Giltigkeit angesehen werden. Dass damit erst die sicheren Grundlagen für eine Lehre des musikalischen Ausdrucks geschaffen sind, ist leicht zu erkennen.

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Durch diese und einige andere durchgeführte Neuerungen, von denen ich nur die unterschiedene Aufstellung eines mezzolegato-Anschlags nennen will, der in der Praxis längst eine grosse Bedeutung hat, aber bisher des besonderen Namens entbehrte, erhält die Schule eine eigenartige Physiognomie, die ihre Existenz von vornherein als eine berechtigte erscheinen lässt. An Widerspruch gegen das, was an meiner Darstellung neu ist, wird es gewiss nicht fehlen; ich glaube jedoch, auch gegenüber einer strengen Kritik bestehen zu können, da mein Wollen das beste war und eine zehnjährige Unterrichtspraxis mir die für ein pädagogisches Werk unerlässlichen Erfahrungen an die Hand giebt. Die Doppelverwendung der meisten Etüden zum Studium der verschiedenen Anschlagsarten wird man nicht als Barbarismus und Impietät verwerfen. Wer sie für Cramer's Etüden nicht mehr für statthaft hält, lasse sie desto mehr an Czerny exekutiren. Bei letzterem möchte ich in der Seltenheit der Vortragsbezeichnungen einen Beweis sehen, dass Czerny sie für verschiedenerlei Vortrag von vornherein bestimmte. Auch dürfte der Umstand, dass die Mehrzahl der Etüden in C-Dur steht, darauf hinweisen, dass eine Transposition derselben in andere Tonarten als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es sei daher an dieser Stelle nochmals daran erinnert, dass der Lehrer nicht versäumen darf, vorgerücktere <IX> Schüler zur endgültigen Ausbildung der Technik Stücke auswendig lernen und transponirt spielen zu lassen. Wenn auch nicht jeder Schüler dahin kommt, dies ordentlich zu leisten, so ist doch wenigstens zu versuchen, ob er dazu im Stande ist; fällt der Versuch schlecht aus, so ist Abstand zu nehmen. Es kommen im Leben Fälle genug vor, welche die Fertigkeit im Transponiren als werthvolle Errungenschaft erscheinen lassen; aber auch ohne dies wäre das Transponiren als vorzügliches Bildungsmittel der musikalischen Auffassungskraft eifrig zu üben. Darf doch stets und überall über die gerade vorliegende Spezialaufgabe nicht das allgemeine Ziel aus dem Auge verloren werden, dass der ganze Mensch gebildet werden soll und nicht etwa nur die Finger! Die Ausbildung des Musikers ist in der Hauptsache dieselbe, mag er zum Sänger oder zum Spieler irgend eines Instrumentes erzogen werden. Da aber eine musikalische Erziehung in abstracto nicht wohl möglich ist, so tritt auch das allgemeine in konkreter Gestalt auf und die allgemeine Musiklehre wird zur Klavierschule oder Violinschule oder Gesangschule usw. Das vergesse man nicht! Liesse sich das allgemeine wirklich ganz vom spezialtechnischen des Instrumentes abtrennen, so sähe eine Klavierschule einfach genug aus; denn sie könnte sich auf eine beschränkte Zahl technischer Vorstudien und die Erklärung der die Anschlagsart bestimmenden Zeichen beschränken - Takt, Vortrag und Phrasirung, Akkorde, Tonarten, Verzierungen und wie sonst alle die wichtigen Dinge heissen, welche der Klavierschüler allmählich mit fortschreitender Praxis kennen und begreifen lernt, hätten nichts damit zu thun. Von einer solchen Trennung des theoretischen und praktischen kommt man aber im Gegentheil immer mehr zurück in der richtigen Erkenntniss, dass nur das direkt anschauliche schnell und leicht begriffen wird. Nicht das Wissen, sondern das Können ist des Künstlers höchstes Ziel - das Können setzt freilich das Wissen voraus, nicht aber als etwas vorher, sondern als etwas zugleich erworbenes. Der Künstler begreift die Kunst durch Kunstübung, nicht durch philosophisches Studium ihres Wesen.

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Hiernach wird man leicht verstehen, wie die Trennung meines <X> Buches in einen theoretischen (System) und praktischen Theil (Methode) zu verstehen ist; nichts könnte verkehrter sein, als etwa den einen zu absolviren, ehe man zu dem andern fortgeht. Die Methode giebt den eigentlichen Faden für die Lehre, während die verschiedenen Kapitel des Systems die Hauptgesichtspunkte kurz aufstellen, welche beim Unterricht fortwährend im Auge behalten werden müssen und, wenn sie nicht eben gesondert an die Spitze gestellt wären, immer wieder in Erinnerung gebracht werden müssten. Der Schüler soll sie nicht gesondert, nicht abstrakt lernen, sondern im Verlaufe der Studien nach der vorgezeichneten Methode; sie sind also nicht für den Schüler sondern für den Lehrer zusammengestellt, damit letzterer sich ihrer immer im vollsten Maasse bewusst sei und ihr Verständniss dem Schüler allmählich erschliesse.

Damit soll nicht gesagt werden, dass es dem Schüler nicht gut wäre, wenn er das "System" in die Hand bekommt; für den Selbstunterricht ist allerdings das Buch nicht geschrieben, aber es wäre doch schliesslich wenigstens nicht undenkbar, dass sich jemand damit ohne Lehrer weiter bildete. Besonders aber werden Schüler, die bereits selbst wieder lehren, dasselbe mit Nutzen zur Hand nehmen und sich seinen Inhalt zu eigen machen; sie werden nicht blindlings die Methode als Führer durch die Klavierlitteratur benutzen, sondern sich auch über das Wie? und Warum? aus dem System eine Meinung bilden.

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Wiederholt habe ich versucht, mich mit einer jener voluminösen Klavierschulen zu befreunden, welche dem Schüler alles sein wollen oder sollen, und ihm tropfenweise, wie es ihm bekömmlich ist, Fingerübungen. Etüden und Sonatenbruchstücke zukommen lassen. Es war mir nicht möglich, mich für die Unfehlbarkeit einer solchen Methode zu begeistern, welche nirgend etwas wagt, nirgend vom Schüler eigene Initiative verlangt, sondern überall nur Folgsamkeit, ein fast passives Aufnehmen der dargereichten Speise (oder Medizin) voraussetzt, so dass der Schüler, ohne es recht zu wissen, warum und wodurch, langsam aber sicher zum Künstler reift. Es mag freventlich erscheinen, <XI> an der Vorzüglichkeit eines solchen bedächtigen Vorgehens zu zweifeln - ich weiss, dass eine grosse Zahl ausgezeichneter Lehrer demselben unbedingte Anerkennung zollt, aber ich weiss auch, dass Männer, welche solchen Schulen ehrlich gemeintes Lob spenden, dennoch vorziehen, ihre eigene Unterrichtspraxis freier zu gestalten, und ich weiss, dass es nicht minder ausgezeichnete Pädagogen giebt, welche eine "vollständige Klavierschule von den ersten Anfängen bis zur vollendeten Virtuosität" für einen bequemen Führer unsicherer Lehrer halten: im Sinne solcher weiter sehenden Männer habe ich mein Buch abgefasst; es soll eine Anleitung sein für die freie aber umsichtige Benutzung des besten im Laufe von mehr als einem Jahrhunderte geschriebenen Unterrichtsmaterials, nicht aber eine weitere Vermehrung des Materiales selbst. Dass ich mir gegen diesen Grundgedanken einige Inkonsequenzen habe zu schulden kommen lassen, indem ich doch ein paar Hefte "ergänzende Materialien" gab, bedauere ich, wie gesagt, selbst. Da ich aber natürlich in dem Buche zunächst meine eigene Unterrichtsmethode und zwar zum eigenen Gebrauch und zur Weitel gabe an meine Schüler niederlege, so wäre es thörichte und falsche Prinzipienreiterei gewesen, im Buche für den Elementarunterricht Werke zu empfehlen, die ich selbst nicht benutze, und die ergänzenden Randbemerkungen zu Plaidy noch weiter zu empfehlen, wo sich Gelegenheit bietet, einfacher damit fertig zu werden.

Nach diesen, wie ich denke, den Plan des Buches klar stellenden Bemerkungen möge man Prinzip gegen Prinzip, Methode gegen Methode abwägen, nicht aber von einem anderen Standpunkte aus den meinen verwerfen, weil er ein anderer ist!

Hamburg, im Sommer 1883.

Dr. Hugo Riemann.

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