Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 10 [Seite 2 von 4]

Unterscheiden wir zuerst einen seriösen (grossen) Stil so wird als dessen Gegensatz der capricciöse (humoristische) Stil erscheinen. Jener verlangt überall edele Tongebung und Nivellierung der Kontraste der Anschlagsarten, dieser dagegen die Verschärfung derselben und bald spitze, bald plumpe Töne. Je nach dem Tempo erscheint der Charakter der seriös gehaltenen Werke wieder als ein sehr verschiedenartiger, im Allegro als Appassionato oder Maestoso, im Adagio als Cantabile, Patetico oder Mesto etc. Grösse und Energie der Empfindung, Breitheit der Anlage eignen den seriösen Sätzen und verlangen entsprechend einen vollen grossen Ton, energische Schattierungen in grossen Zügen, langathmige Phrasierung. Das strenge Legato ist die reinste Form der Tonverbindung, sofern bei ihm ein Ton wirklich aus dem andern herauswächst und das Tönen, ja das Crescendo oder Diminuendo unbeirrt weitergeht, während die Tonhöhe sich ändert; das Legato wird daher im seriösen Stil stets vorherrschend sein, eigentliches Staccato kaum vorkommen und wo durch übergesetzte Punkte eine Verkürzung der Tonwerthe gefordert ist, vielmehr durch Non legato (portato) zu ersetzen sein. Auch vor allzu kurzem absetzen der Schlussnoten der Phrasen und Figuren ist zu warnen. <37> Die Temposchattierungen sind innerhalb enger Schranken zu halten, sodass ein wirkliches Accelerando und Ritardando nur als seltener Fall erscheint, während andrerseits die kleinen Verlängerungen der Ausdrucksnoten (Vorhalte etc.) durchaus nothwendig sind.

Der capricciöse Stil ist in allem das Gegentheil des seriösen; er fordert schnelle, oft gänzlich unvermittelte Wechsel der Tonstärke, der Anschlagsart, des Tempo. Da er sein Wesen in der Laune (capriccio), im Abweichen von Regulären hat, so ist es Sache des Componisten, genau vorzuschreiben, wie vorgetragen werden soll. Während daher Stücke im seriösen Stil oft lange Stellen ohne alle Vortragsbezeichnungen aufweisen, die demnach in der natürlichsten Weise (vgl. § 11) zu schattieren sind, finden wir in Capricen, Rondos, Scherzi etc. die Vortragszeichen dicht gesäet. Die Phrasirung ist in der Regel sehr zerstückt, das Staccato muss wirklich geschnellt werden, Freiheit aller Bewegungen, höchste Degagirtheit verbunden mit höchster Elasticität sind die Vorbedingungen, welche die Ausführung von Werken dieser Stilgattung zu einer Aufgabe sehr entwickelter Technik machen.

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