Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 10 [Seite 4 von 4]

Als eine besondere Stilgattung ist dagegen der brillante (virtuose) Stil anzusehen, die Frucht des überhandnehmenden Virtuosenthums in der Clavierlitteratur. Denn brillant sind nicht nur mehr oder minder lange Stellen in Clavierwerken sondern eine grosse Anzahl ganzer Werke. Brillant ist das auf Effect berechnete: eine schnell rauschende Passage, ein donnerndes Forte, ein wie ein Hauch säuselndes Pianissimo. Für den Vortrag brillanter Stellen oder Stücke kommt alles zur Anwendung, was den Effekt erhöht: das prickelnde Mezzolegato statt des Legato, leichtes oder scharfes Staccato oder Mischungen der Anschlagsarten statt des Finger-Staccato, das tollste Stretto zur Erhöhung der imponirenden Wirkung schnellen Passagenwerkes, langgedebntes singendes Melodiespiel für einfachere Stellen usw.

Ein Spieler, der eine oder die andere der gekennzeichneten Stilarten bevorzugt, und die ihr angemessene Spielweise mehr oder minder genau auch auf die anderen überträgt, wird demnach mit Recht als einseitig bezeichnet werden. So giebt es graziöse Spieler, welche der für das seriöse Spiel erforderlichen Concentration ihrer Energie nicht fähig sind und daher auch die Sonata appassionata von Beethoven graziös spielen müssen, wenn sie nicht unförmliche Explosionen gewaltsamer Kraftanstrengung zur <40> Schau stellen wollen; oder brillante Spieler, deren Horizont hinter dem Passagenwerk von Conzerten und Bravourstücken aufhört und die ausser Stande sind, ein Clavierstück von Kirchner mit Geschmack auszuführen; oder sentimentale Spieler, welche Beethoven und Bach krankhaft verzerren, indem sie Manieren anwenden, welche allenfalls bei Mendelssohn und Chopin am Platze sind. Wer nach wahrer Meisterschaft strebt, muss sich vor solcher Einseitigkeit hüten, welche die kleine Zahl der korrekten Leistungen durch die grosse der verfehlten in Schatten stellt; aber auch wer nicht zur wirklichen universellen Virtuosität durchzudringen vermag, ziehe es vor, allen Stilen nach Kräften gerecht zu werden, d.h. ein mittelmässiger aber geschmackvoller Spieler zu werden, statt sich nach einer Seite hin Routine zu verschaffen.

Eine grosse Schwierigkeit liegt nun allerdings darin, den Charakter, den Stil des Tonstückes jederzeit richtig zu erkennen. Wem hierzu nicht die Natur die nöthige Mitgift in die Wiege gelegt hat, der lausche aufmerksam den wahren Priestern der Kunst ihre Auffassung ab, lese gute Bücher, probire selbst aus und achte vor allem genau auf die Winke, welche die Componisten gegeben haben. Es soll nicht geläugnet werden, dass dasselbe Werk mit Glück verschiedenartig aufgefasst werden kann: aber es kann verlangt werden, dass der Spieler seine Auffassung gut begründe und nicht willkürlich und summarisch verfahre. Erste Vorbedingung hervorragender Leistungen bleibt neben gesundem Talent eine harmonische Ausbildung des Geistes, welche demselben das Verstehen auch der höchsten Kunstideale ermöglicht.

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