Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 12 [Seite 3 von 10]

<63> Diese Gesichtspunkte galten mir als massgebend bei der Abfassung des den Verzierungen gewidmeten Capitels im praktischen Theile dieser Schule (Materialien, 3. Heft "Ornamentik"). Einige Prinzipienfragen, mit denen der Schüler nicht behelligt werden darf, müssen aber hier erörtert werden, nämlich: Werden die Verzierungen, welche in der Notenschrift der Note vorausgehen oder ihr übergeschrieben sind, vor der betreffenden Takktzeit oder genau auf dieselbe gebracht? sowie zweitens: Sind die den Notenwerth beginnenden (anschlagenden) Verzierungen accentuirt zu geben oder nicht?

Über den ersten Punkt sind die älteren Theoretiker einig, [FN] <64> indem sie durchaus betonen, dass die Verzierung vom Notenwerthe der verzierten Note, nicht aber von dem der vorausgehenden abzüglich, also auf die Taktzeit des Eintritts der Hauptnote zu spielen ist. Doch existirten neben den anschlagenden (vorschlagenden) Verzierungen bereits im vorigen Jahrhundert die nachschlagenden Verzierungen (Nachschläge), es waren also bei aller scheinbaren Bestimmtheit und Übereinstimmung in vielen konkreten Fällen Zweifel möglich" ob man einen Vor- oder Nachschlag vor sich hatte, d.h. ob man die Verzierung in die vorausgehende oder die folgende Zeit zu rechnen hatte. Besonderer Beliebtheit haben sich freilich die Nachschläge wie es scheint ausser beim Triller nicht zu erfreuen gehabt; Türk warnt sehr vor ihnen [FN]. Natürlich handelt es sich bei dieser Streitfrage überhaupt nur um die kurzen, nicht aber um die langen Vorschläge. Der lange Vorschlag ist seinem Wesen nach Vorhalt, wie man im vorigen Jahrhundert sehr wohl wusste und stets anmerkte (nach Türk S. 209 nannte man ja auch den langen Vorschlag geradezu Vorhalt), d.h. er gehörte selbstverständlich in die Zeit der folgenden Note, deren besten Theil er wegnahm. Leider ist es aber wieder oft nicht zu unterscheiden, ob man einen langen oder kurzen Vorschlag vor sich hat; die Herausgeber haben auch <65> vielfach nach Gutdünken statt nach den Regeln gehandelt, indem sie kurze und lange Vorschläge, die ehedem in der Schrift nicht unterschieden waren, aus einander hielten. Nach Türk (Klavierschule, S. 220 ff) wie auch Ph.E. Bach (a.a.O. S. 58) sind kurze Vorschläge alle diejenigen, welche

  1. vor einer mehrmals wiederholten Note stehen,
  2. vor einer (besonders etwas kurzen) Note, nach welcher mehrere von gleicher Geltung folgen,
  3. vor kurz abzusetzenden (gestossenen) Noten,
  4. vor springenden Intervallen,
  5. zu Anfang eines Satzes oder einzelnen Gedankens etc. desgleichen vor einer Pause,
  6. vor Rückungen (synkopirten Noten),
  7. wenn vorher eine ähnliche Eintheilung verlangt worden ist,
  8. vor punktirten Noten in etwas geschwinder Bewegung, besonders zwischen Sprüngen,
  9. vor Einschnitten, besonders wenn durch einen etwas längeren Vorschlag in diesem Falle eine Monotomie entstände,
  10. wenn der Gesang eine Stufe steigt und sogleich wieder in den vorigen Ton zurücktritt:

Notenbeispiel S. 65

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