Neue Oratorien. [Kreisig 94]

[Auszug]

I. Ferdinand Hiller, die Zerstörung Jerusalems. Oratorium nach der heiligen Schrift von Dr. Steinheim. Werk 24.

<IV,3>[...]

Die auffallende Erscheinung, daß sich in neuester Zeit viele jüngere Componisten der Kirchenmusik mit Vorliebe zuwenden, ist schon von Anderen bemerkt worden. Der Erfolg, den Mendelssohn's Paulus gehabt, scheint große Ursache daran zu haben. Viele, ja die Meisten, werden sich freilich täuschen in ihren Hoffnungen auf gleiche oder nur ähnliche Siege. Wohl nicht die Kirche, nicht die Art der dahingehörigen Kunstgattung <IV,4> hat ihn errungen, eine Gattung, deren Blüthe schon längst vorüber, sondern die hohe Kunst des einzelnen Künstlers, dem im Paulus ein Meisterwerk gelungen. Viel tiefer wurzelt z.B. das Bedürfniß nach einer neuen deutschen Oper; vielleicht, daß auch bald hierin ein starker Künstler vorangeht und Nacheiferung und Muth erweckt, wie es Mendelssohn's Paulus für die Kirchenmusik getan. Wie dem sei, wir müssen jedem Streben nach so ernstem Ziel unsere innigste Aufmerksamkeit zuwenden. Was dem Künstler, der für die Kirche arbeitet und sich in den strengen Formen, die ihre Musik erheischt, bewegen muß, auch vom Beifalle des großen Haufens abgehen möge, es kommt ihm auf andere Weise für seine Kunst und hundertfältig zu gute. Wer Kirchen bauen kann, dem sind dann die Häuser ein Leichtes; wer ein Oratorium zustande gebracht, dem wird es in anderen Formen dann spielend gelingen.

Es gibt Baumeister, die wissen, was sie bauen; geschickte praktische Männer, die sich streng nach dem Riß halten, der sich ihnen schon oft zweckdienlich erwiesen; nichts ist da vergessen, die Kirchenthür an guter Stelle, der Glockenturm an seiner. Ein solcher ist der alte Dessauer Meister. Es gibt andere, die wissen es auch. Aber ehe sie beginnen, beten sie einen frommen Spruch, ihr Geschäft gilt ihnen ein heiliges. Von der gewöhnlichen Bauart vielleicht abweichend, sinnen sie wohl auch auf Neues; kleine Kapellen entstehen an den Seiten, Muttergottesbilder werden angebracht und versteckte <IV,5> tiefsinnige Zierat; ein solcher ist der Meister des Paulus. Nach solcher Meisterschaft ringt auch sein Freund Ferdinand Hiller. Mit Freude muß man es bemerken: es scheint unter einer Anzahl jüngerer Künstler wie eine stillschweigende Uebereinkunft zu bestehen, dem alten Schlendrian mit gründlichen Thaten entgegenzutreten, ein Bündniß gegen eine gewisse Classe von Handwerksmusikern, die nach der Elle componiren, heute eine Kirchenmusik, und morgen für den Tanzsaal. Gerade unter den Kirchencomponisten sind einige zu Ruf und Namen gekommen, was der Nachwelt, wenn sie vergleicht, daß zur selben Zeit z.B. noch Beethoven lebte und für die Kirche schuf, unbegreiflich erscheinen muß; gerade in der Kirchenmusik hatte sich ein süßlich-sentimentaler Ausdruck eingeschlichen, der eher zum Tempel hinaustrieb als zur Andacht erweckte. Andere, immerhin aber bessere, wie B. Klein, verfuhren wieder zu trappistisch, als daß sie Einfluß gewinnen konnten. Mendelssohn aber hat unter den Norddeutschen zuerst wieder auf die wahre Spur hingelenkt, auf Händel und Bach, die über die weichen Süddeutschen Mozart und Haydn etwas in Vergessenheit gerathen waren, auf die wahren Glaubenshelden unserer Kunst. Auch Hillern sind diese Vorbilder wohl bekannt, und läßt sich dies nicht im Einzelnen nachweisen, so doch an der ganzen würdigen Haltung seines Werkes; sein Streben nach kräftigstem Ausdruck, nach Uebereinstimmung zwischen Wort und Ton, mit einem Worte: nach Wahrheit seiner <IV,6> Musik, spricht dafür. [...]

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