Sulzer: Theorie der Schönen Künste

Durchgang.

(Musik.)

<753 li> Bedeutet eigentlich die Art, von einem Ton auf den andern dergestalt zu kommen, daß man zwischen beyden noch einen mittlern Ton hören läßt, der gleichsam die Stufe ist, durch welche man von dem einen zum andern auf= oder absteiget. Wenn man nach C will E hören lassen, und durch den Ton D nach E heraufsteiget, so wird der Ton D als im Durchgang angegeben betrachtet, und daher ein durchgehender Ton, und in Noten eine durchgehende Note genennt.

Wenn man in einem Gesang alle durchgehende Töne wegließe; so müßten die übrigen einen regelmäßigen und guten Gesang ausmachen; also sind alle im Durchgang vorkommenden Töne zufällige Töne, die daseyn oder wegbleiben können, ohne in der Hauptsache, weder <753 re> in Absicht auf die Melodie noch auf die Harmonie, eine Aendrung zu machen. Die durchgehenden Töne dienen

  1. zur Erleichterung des Ueberganges von einem Haupttone zum andern. Denn da man im Singen die consonirenden Intervalle leichter als dissonirende trifft, so kann man jene als Durchgänge zu diesen ansehen, wie folgende Beyspiele zeigen: [Notenbeispiel]
  2. zu einer engern Verbindung der Haupttöne, wodurch oft der Gesang etwas gemilderter wird, wenn er stufenweise, als wenn er sprungweise fortgehet;
  3. dienen sie auch zu allerhand artigen melismatischen Auszierungen, welche überall, wo der Gesang nicht ernsthaft, sondern lieblich und etwas schwatzhaft seyn soll, der Melodie die größte Annehmlichkeit geben.

Aus diesen Gründen kommen überall in der figurirten Musik in den obern Stimmen, auch bisweilen im Basse, durchgehende Töne vor, die man in Ansehung der Harmonie nicht in Rechnung bringt. Sollen sie aber die Harmonie nicht verderben, so müssen sie auch schnell durchgehen, damit das Ohr nicht Zeit habe, ihr Dissoniren gegen die Grundtöne zu bemerken. Also müssen sie in langsamer Bewegung wenigstens Achteltöne seyn, in geschwinder aber können auch Vierteltöne durchgehen. In begleitenden Bässen können die die durchgehenden Töne nicht als Auszierungen angebracht werden, hingegen dienen sie da, und in zweifelhaftern Fällen das Gefühl des Tones, darinn man ist, festzusetzen.

Natürlicher Weise muß die Stimme über diese Töne gleichsam nur <754 li> hinschlüpfen, und keinen Accent auf sie legen, weil sie gegen die unterste Stimme meistentheils dissoniren. Also müssen sie auf die schlechten Zeiten des Takts, oder so angebracht werden, daß man auf jeder neuen Harmonie zuerst eine Hauptnote, hernach eine durchgehende höre. Inzwischen hat man gefunden, daß sie auch auf die guten Zeiten anzubringen sind. Jene natürliche Art hat man mit dem Namen des regelmäßigen Durchgangs belegt, diese den unregelmäßigen genennt. Bisweilen werden beyde Arten so vereiniget, daß wechselweise in einem Gange die eine und die andre Art vorkommt, und dieses wird der vermischte Durchgang genennt [FN: Transitus regularis irregularis; mixtus.]. Zu Beyspielen aller drey Arten kann folgendes dienen.

Regelmäßiger Durchgang. [Notenbeispiel]
Unregelmäßiger Durchgang. [Notenbeispiel]
Vermischter Durchgang. [Notenbeispiel]

<754 re> [Zusatz:] Von allen Arten des Durchganges handelt, unter mehrern, J.A. Scheibe, im 3ten Abs. des fünften Kap. S. 266 seiner Schrift: Ueber die musikalische Composition, Leipz. 1773. 4.

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