Sulzer: Theorie der Schönen Künste

Genie.

(Schöne Künste.)

<363li> Es scheinet, daß man überhaupt denjenigen Menschen Genie zuschreibe, die in den Geschäften und Verrichtungen, wozu sie eine natürliche Neigung zu haben scheinen, eine vorzügliche Geschiklichkeit und mehr Fruchtbarkeit des Geistes zeigen, als andre Menschen. Der Mann von Genie sieht in den Gegenständen, die ihn interessieren, mehr als andre Menschen, entdeket leichter die sichersten Mittel zu seinem Zwek zu gelangen, findet bey vorkommenden Hindernissen glükliche Auswege, ist mehr als andre Menschen, Meister seiner Seelenkräfte, erkennet und empfindet schärfer als ein andrer, hat <363re> dabey seine Vorstellungen und Empfindungen mehr in seiner Gewalt, da Menschen ohne Genie von den ihrigen geführt und gelenkt werden. Also scheinet das Genie im Grunde nichts anders zu seyn, als eine vorzügliche Größe des Geistes überhaupt, und die Benennungen ein großer Geist, ein großer Kopf, ein Mann von Genie, können für gleich bedeutend gehalten werden.

Doch erstreckt sich diese Größe, die sich den Namen des Genies erwirbt, nicht allezeit über jedes Vermögen des Geistes. Es giebt Menschen, in deren Seelen alles groß ist, wiewol diese höchst selten sind; andre besitzen nur einzele Seelenkräfte in einem sehr hohen Grad, und weden dadurch weit mehr, als andre Menschen, zu gewissen Verrichtungen tüchtig. Man schreibt solchen Menschen nicht schlechtweg Genie, sondern ein besondres Genie für die Sachen zu, für welche sie vorzügliche Fähigkeiten haben.

Ueberhaupt scheint es, daß in beyden Fällen das Genie eine besondere Leichtigkeit, die Vorstellungen auf einen höhen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit, oder, anch Beschaffenheit der Sache, der Deutlichkeit zu erheben, mit sich bringe. [...]

<364li> [...] Wir dürfen uns nicht scheuen, die Anlage zum Genie selbst in der thierischen Natur aufzusuchen, da man durchgehends übereingekommen ist, auch den Thieren etwas dem Genie ähnliches zuzuschreiben. Wir sehen, daß jedes Thier alle Geschäffte, die zu seinen Bedürfnissen gehören, mit einer Geschiklichkeit und mit einer Fertigkeit verrichtet, die Genie anzuzeigen scheinen. Bei dem Thier liegt allemal ein höchst feines Gefühl, eine ausnehmende Reizbarkeit der Sinne zum Grund. [...] Bey dem Menschen scheinet das Genie eine ähnliche Unterstützung nöthig zu haben. Wie stark auch immer seine Vorstellungskräfte seyn mögen, so machen sie das Genie noch nicht aus: es muß irgend eine Reizung hinzukommen, wodurch die Würksamkeit jener Kräfte auf besondre Gegenstände gelenkt und dabey unterhalten <364re> wird. Denn was wir hier Vorstellungskräfte nennen, sind, wenn man genau reden will, bloße Vermögen oder bloße Fähigkeiten des Geistes, die erst dann würksam werden, wenn ein innerliches oder äußerliches Bedürfniß ihre Würksamkeit erwekt und unterhält.

Seelen von geringer Empfindsamkeit, die durch nichts zu vorzüglicher Würksamkeit gereizt werden, die keine besondere Bedürfnisse haben, solche Seelen sind bey dem größten Verstand ohne Genie; denn dieser große Verstand muß durch das Bedürfniß in Würksamkeit erhalten werden. Die verschiedenen Vermögen der Seele liegen in einer schlaffen Unthätigkeit, bis irgend eine Empfindung sie reizt, und dann würken sie, so lange diese Empfindung vorhanden ist. [...]

Wo demnach zu den vorzüglichen Vorstellungskräften der Seele, ein bestimmtes inneres Bedürfniß derselben hinzukömmt, das ihnen die rechte Würksamkeit giebt, da zeiget sich das Genie, und es bekömmt seine besondere Bestimmung von der Art des Bedürfnisses. [...] <365li> Zum Genie wird also auch warme Empfindung erfodert, ohne welche der Geist nie würksam genug ist. Wo eine solche Empfindung bey Menschen von vorzüglichen Gaben des Geistes nur vorübergehend ist, da äußern sich auch vorübergehende Würkungen des Genies; die aber, deren Empfindungen herrschend worden, sind die eigentlichen Genies jeder Art.

Ein Mann von Verstand kann auch wol ohne Empfindung oder innerliches Bedürfniß, aus Mode, oder aus Lust zur Nachahmung, oder aus andern außer der Empfindung liegenden Veranlassungen, sich in Geschäffte einlassen, die andre aus Triebe des Genies thun. Aber alles Verstandes ungeachtet wird er weit hinter dem wahren Genie zurüke bleiben; man wird das Veranstaltete, von kalter Ueberlegung herkommende und etwas steife Wesen gewiß in seinem Werk entdeken; er wird sich in dieser Art, als ein Mann von Verstand und Ueberlegung, aber nicht als ein Genie zeigen; man wird merken, daß sein Werk aus Kunst und Nachahmung entstanden ist, da die Werke des wahren Genies das Gepräge de Natur selbst haben. [...]

Diesen Anmerkungen zur Folge wären eine vorzügliche Stärke der Seelenkräfte, mit einer besondern Empfindsamkeit für gewisse Arten der Vorstellungen verbunden, nothwendige Bedingungen zu Hervorbringung des Genies. Damit wir uns nicht zu allzuweit ausdehnen, wollen wir diese allemeine Bemerkung nur auf <365re> die Arten des Genies anwenden, die sich in den schönen Künsten äußern.

Jede derselben hat etwas auf die äußern Sinnen würkendes zum Grunde. Wäre unser Ohr nichts als eine Oeffnung, die dem todten Schalle den Eingang in die Seele verstattete, und unser Auge nichts, als ein Fenster, wodurch das Licht fällt, so würde die Musik nichts als eine bloße Rede, die Mahlerey eine bloße Schrift seyn. Daß das Gehör durch Harmonie und Rhythmus, das Auge durch Harmonie der Farben und Schönheit der Formen gerührt wird, macht, daß die Musik und die Mahlerey schöne Künste sind. Für den Menschen, dessen Ohr durch Harmonie und Rhythmus nicht gereizt wird, ist die Musik ein bloßes Geräusch. Hieraus läßt sich abnehmen, auf was für einem Grund das, jeder Kunst überhaupt eigenen Genie, beruhe. Es stützet sich auf eine besondere Reizbarkeit der Sinnen und des Systems der Nerven. Der, dessen Ohr von der Kraft der Töne dergestalt gereizt wird, daß das Vergnügen, das er daraus empfindet, eine Bedürfniß für ihn wird, hat die wahre Anlage zum Genie der Musik. [...] Aber diese verschiedenen Gattungen der Reizbarkeit machen nur noch das mechanische Genie des Künstlers aus, das noch immer nahe an den Instinct der Thiere gränzet. Der Künstler, der dieses Genie allein hat, ist nur in dem Mechanischen der Kunst glüklich; aber darum hat sein Werk noch den Geist nicht, wodurch es bestimmte Würkung auf die Gemüther <366li> der Menschen macht, die selbst keine Künstler sind. Ein Tonstük kann an Harmonie und Rhythmus gut, und doch ohne Kraft des Ausdruks seyn, so wie ein Gedicht von der schönsten Versification sehr unbedeutend seyn kann.

Der große Künstler, der unter den Genien, die in der Geschichte des menschlichen Geistes als Sterne der ersten Größe erscheinen, einen Platz bekommen soll, muß wie Homer, wie Phidias oder wie Händel, außer dem seiner Kunst eigenen Genie, ein großes philosophisches Genie besitzen; muß ein Mann seyn, der, wenn er auch den Geist seiner Kunst nicht gehabt hätte, noch immer ein Genie geblieben wäre. Dieses allgemeine, philosophische Genie giebt ihm große Erfindungen, große Gedanken, die das Kunstgenie nach dem, der Kunst eigenen, Geiste bearbeitet. Dadurch entstehen die herrlichen Werke der schönen Künste, die nicht nur der Künstler, sondern jeder Mensch von Gefühl und Verstand bewundert.

Das Genie eines jeden Künstlers muß also nach einem doppelten Maaßstab gemessen werden: an dem einen mißt man seine Kunst, und dem andern seine Materie. [...]

Das bloße Kunstgenie kann wieder seine mannigfaltigen Bestimmungen haben. Das empfindende Auge wird nicht allemal durch jede Schönheit gereizt; dieser Mensch wird durch die Schönheit der Formen entzüket; der, <366re> blos durch den Glanz der Farben [...]. In der Musik wird ein Ohr vorzüglich durch Harmonie gereizt, ein andres durch Gesang. Und diese Verschiedenheit findet sich auch in dem außer der Kunst liegenden Genie der Menschen. Es giebt, wie schon oben angemerkt worden, Seelen, in denen es überall hell, und andre, wo das Licht nur auf einzele Gegenden eingeschränkt ist.

Diese wenigen Betrachtungen über das Genie geben doch einige Aufklärung über die ungemeine Mannigfaltigkeit desselben in den schönen Künsten. Fällt das bloße Kunstgenie in eine gemeine Seele, die außer der Kunst ohne Größe ist, so kann es doch Werke hervorbringen, die von eigentlichen Liebhabern der Kunst bewundert werden. Es giebt Dichter, die nicht viel mehr als Verschmaschinen, Tonkünstler, die Notenmaschinen sind; und so hat nicht nur jede Kunst, sondern bald jeder einzele Zweig derselben, Männer gezeuget, die durch bloßen Instinkt einen oder mehrere meschanische Theile mit bewundernswürdiger Geschiklichkeit ausgeübt haben. [...] Wir wollen diese Werke dieser blos durch den Instinkt gebildeten Künstler den Liebhabern gern als kostbare Kleinodien, womit sie ihre Cabinetter ausschmücken, überlassen.

Das Genie der Menschen ist auch außer der Kunst so mannigfaltig, als die verschiedenen Gegenstände selbst, an denen man Geschmak findet. Wenn man den natürlichen Geschmak an ganz abgezogenen und bis zur größten Deutlichkeit entwikelten Begriffen, und an Wahrheiten, die durch strenge Vernunftschlüsse bewiesen werden, ausnimmt, so kann jede andre Gattung des Genies sich mit <367li> einem besondern Kunstgenie vereinigen, und daher entstehet die große Mannigfaltigkeit in den Charakteren der Künstler. Ein Mensch hat vorzüglich an sittlichen Gegenständen ein Wolgefallen, einen andren reizen nur leidenschaftliche Scenen; bey diesem ist blos die Einbildungskraft reizbar, und der findet vorzüglichen Geschmak an sinnlich erkannten philosophischen Wahrheiten. Man verbinde die vielerley Arten des daher entstehenden Genies, mit den verschiedenene Arten des Kunstgenies, so bekömmt man eine große Mannigfaltigkeit an Künstlern von Genie, deren jeder seinen eigenen unterscheidenden Charakter hat. [...]

Es würde angenehm seyn, und zu näherer Kenntniß des menschlichen Genies ungemein viel beytragen, wenn Kenneraus den berühmtesten Werken der Kunst das besondere Gepräg des Genies der Künstler mit psychologischer Genauigkeit zu bestimmen suchen. Man hat es zwar mit einigen Genien der ersten Größe versucht; aber was man in dieser Art hat, ist nur noch als ein schwacher Anfang der Naturhistorie des menschlichen Geistes anzusehen.

[...]

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