Sulzer: Theorie der Schönen Künste

Singstük.

(Musik.)

<384re> Diesen Namen giebt man allen Tonstüken, worin eine oder mehrere Singstimmenvorkommen, sie mögen von Instrumenten begleitet seyn, oder nicht. Die Singstimme ist in diesen Stüken die Hauptstimme; auf welche der Tonsetzer sen ganzer Augenmerk richten muß. [...] <385li> Es ist ungleich schwerer, für das Herz als blos für die Einbildung zu arbeiten. Diese fängt bey der geringsten Veranlassung, bey ein paar auf einander folgenden Accorden, Feuer; jenes will gerührt seyn. Dem Singcomponisten werden zwey Hülfsmittel an die Hand gegeben, die ihn, sich des Herzens seiner Zuhörer zu bemächtigen, mächtiglich unterstützen. Diese sind: die Worte, und die menschliche Stimme. Jedes für sich vermag oft schon viel über das menschliche Herz; thut nun noch der Tonsetzer das Seinige, so wird im Niemand ungerührt zuhören; kein Herz wird den Eindrüken widerstehen können, die der Zusammenfluß der Worte, des Gesanges, der menschlichen Stimme, un der harmonischen Begleitung macht.

Wie es scheinet, werden zu einem vollkommenen Singstük, es sey welcher Art es wolle, folgende Stüke erfodert:

  1. Es muß ohne Rücksicht auf den Ausdruk einen Charakter in der Schreibart haben, der den Worten angemessen ist. Ernsthaft im Kirchenstyl, glänzend im Kammerstyl, und affektvoll im Theaterstyl.
  2. Die Singstimme oder Singstimmen müssen den Hauptgesang führen, in dem sich die vorzustellende Leidenschaft vorzüglich schildert. Wird dieser Gesang von Instrumenten begleitet, so muß er niemals durch diese verdunkelt werden, sondern sie müssen ihm nur zur Unterstützung dienen [Riepienstimmen]. <385re>
  3. Unter den begleitenden Instrumenten sowol, als in der Art der Begleitung, muß nach dem Ton der vorzustellenden Leidenschaft eine geschikte Auswahl getroffen werden.
  4. Taktart, Bewegung und Rhythmus müssen mit der Gemüthsbewegung, die die Leidenschaft erzeugt, übereinstimmen. Es versteht sich, daß die Worte auch darnach eingerichtet seyn müssen.
  5. Die Melodie über den Worten muß sich in Ansehung der höhern und tiefern Töne, der steigenden oder sinkenden Fortschreitung, der Einschnitte und Abschnitte, genau nach diesen richten, und einfach seyn, damit die Worte nicht zerrissen werden.
  6. Die gewöhnliche Ausdehnung der menschlichen Stimme muß in den Singstimmen nicht überschritten werden, es sey denn, daß man für Stimmen schreibe, die über die gewöhnliche Ausdehnung hinausgehen.
  7. Daneben muß ein Singstük nach Beschaffenheit des Ausdruks voll von sanften oder frappanten Modulationen, Abwechslungen des Einförmigen mit dem Mannichfaltigen, immer unterhaltend, singend, aber nicht gemein, mit Kunst gewürzt, harmonisch richtig, und ohngeachtet des Zwanges der Worte, ein vollkommenes und regelmäßiges Ganzes seyn.

Was zum Ausdruk der Singstüke gehöre, davon ist schon an einem andern Ort gesprochen worden [Ausdruk; Melodie].

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