Du sollst den Herrn billig loben

Über die Nöte des Thomaskantors Johann Sebastian Bach

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Sendung: Alte Musik kommentiert, 24.11.1992)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: Kantate BWV 22
"Jesus nahm zu sich die Zwölfe"
Auswahl: (Anfang) <CD 2, Tr. 1.>
(ausblenden)
1:50
Interpreten: xx
Label: Teldec (LC 3706)
2292-42502-2
<CD 2, Tr. 1> Gesamt-Zeit: 1:50

Die Stimmung der Leipziger Ratsherren Anfang April 1723 war nicht sonderlich gut. Vor einem guten halben Jahr, am 5. Juni 1722, hatte der alte Thomaskantor Johann Kuhnau das Zeitliche gesegnet, und seitdem war die Stelle verwaist. Zwar hatte sich schon wenige Wochen später der hoch angesehene Hamburger Komponist Georg Philipp Telemann für das Amt beworben, aber als der Vertrag unterschriftsreif war, sagte Telemann dann doch kurzfristig ab: Die Hamburger hatten ihm mittlerweile lukrativere Angebote offeriert.

Ein weiterer Bewerber, Johann Friedrich Fasch, schien den Leipziger Ratsherren als protestantischer Kirchenmusiker und Leiter des Thomaskantorats nicht geeignet. Christoph Graupner wiederum wäre zwar genehm gewesen, und er wäre auch gerne gekommen, aber leider erhielt er von seinem Dienstherrn, dem hessischen Landgrafen in Darmstadt, keine Entlassung. - Graupner immerhin war es, der den Leipzigern in ihrer Not den Köthener Hofkapellmeister Johann Sebastian Bach empfahl - als einen ...

"... Musicus, ebenso starck auf der Orgel, wie erfahren in Kirchensachen und Capell-Stücken, der bislang honest und gebührlich die zugeeigneten Functionen versehen hat."

Bach selbst hatte zunächst keine großen Ambitionen, sein angesehenes Kapellmeister-Amt am Hof zu Köthen gegen eine Kantorenstelle in Leipzig einzutauschen. Was galt schon ein städtischer Angestellter im Vergleich zum hochdekorierten höfischen Bediensteten? Andererseits aber war man am Hofe den Wechselfällen des Lebens in weitaus stärkerem Maße ausgesetzt: Intrigen, Todesfälle, Kriege, leere Kassen - das alles konnte das jähe Ende eines blühenden Musiklebens bedeuten. - In späteren Jahren beschrieb Bach seine damalige Situation am Köthener Hof einmal so:

"Zwar hatte ich daselbst einen gnädigen und die Musik sowohl liebenden als auch kennenden Fürsten; bey welchem ich auch vermeinte, meine Lebenszeit zu beschließen. Es mußte sich aber fügen, daß erwähnter Serenissimus sich mit einer Berenburgischen Princessin vermählete, so daß es denn das Ansehen gewinnen wollte, als ob die musikalische Neigung bei besagtem Fürsten in etwa lauicht werden wollte, zumahlen da die neue Fürstin eine "Amusa" zu sein schien."

So sah denn Johann Sebastian Bach zu, daß er sich von dannen machte und bewarb sich Anfang 1723 um das Thomaskantorat. Am 7. Februar führte er im Sonntagsgottesdienst von St. Thomas sein Probestück auf: die Kantate "Jesus nahm zu sich die Zwölfe".
Musik-Nr.: 02
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: Kantate BWV 22
"Jesus nahm zu sich die Zwölfe"
Auswahl: Arie (Nr. 4)
Choral (Nr. 5)
<CD 2, Tr. 4.>
<CD 2, Tr. 5.>
__:__
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Interpreten: xx
Label: Teldec (LC 3706)
2292-42502-2
<CD 2, Tr. 4.5.> Gesamt-Zeit: 5:40

Welchen Eindruck Bachs Kantate und vor allem sein Aufführungsstil auf die Leipziger Kirchgänger machte, ist nicht überliefert. Allerdings meldete sich in einer der folgenden Rats-Sitzungen ein gewisser Appellationsrat Platz zu Wort, der meinte:

"Da man nun die Besten nicht bekommen könne, müsse man halt mittlere nehmen« und empfahl als Alternative einen Kantor aus Pirna, von dem »ehemals viel Gutes gesprochen worden sei."

Nach längerem Hin und Her wurde Bach dann doch vom Leipziger Rat einstimmig zum Thomas-Kantor gewählt. Das Arbeitspensum hatte es in sich. Die vier Hauptkirchen in Leipzig wollten regelmäßig mit Musik versorgt sein. Das hieß, das Bach für jeden Sonn- und Feiertag eine Kantate zu komponieren oder doch zumindest neu einzustudieren hatte, wobei

"die Präparationen den Schulunterricht nicht in ungebührlicher Weise unterbrechen sollten."

Er führte die Oberaufsicht über die Organisten und Musikanten der Hauptkirchen und hatte die Noten und Musikinstrumente in Verwahrung und mußte an der Thomas-Schule neben dem Musikunterricht auch noch Lateinstunden erteilen.

Sein festes Gehalt betrug 87 Taler und 12 Groschen, hinzu kamen 13 Taler und 3 Groschen für Holz und Lichtgeld, an Naturalien 16 Scheffel Korn, zwei Klafter Scheite, je zwei Kannen Wein zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten, sowie einige Gelder aus Stiftungen und sonstigen Vermächtnissen. Die wichtigste Einnahmequelle - rund 600 Taler - ergab sich für den Thomaskantor allerdings aus der musikalischen Ausgestaltung von Hochzeiten und Beerdigungen. Vier Arten von Betattungen wurden zu Bachs Zeiten in Leipzig unterschieden:

Bach hat an den »Leipziger Leichen« allem Anschein nach nicht schlecht verdient, obwohl er sich gelegentlich über die gesunde Luft in Leipzig beklagt, die ihm die Einnahmen schmälert. An eigenständigen Kompositionen für diese bürgerlichen Begräbnisse ist allerdings wenig überliefert; wahrscheinlich griff Bach für solche Anlässe auf den umfangreichen Notenfundus seiner Bibliothek zurück.

Anders, wenn es um die Prominenz ging. Für den verstorbenen Rektor der Thomas-Schule Johann August Ernesti etwa schrieb Bach eine Trauerkantate - und eine umfangreiche zehnsätzige Ode, als im September 1727 Kurfürstin Christine Eberhardine von Sachsen verschieden war. Für ein knappes halbes Jahr hatte der Friedrich August der Zweite Landestrauer verkündet. Verboten war vor allem

"... das Orgelschlagen, alle anderen Saiten- und Freudenspiele, das Figuralsingen in allen Kirchen, bei Hochzeiten, Kindtaufen, Leichenbegängnissen und auf den Gassen."

Eine Ausnahme bildete lediglich der Festakt in der Leipziger Uni-versität, zu der Bach beauftragt worden war, die Musik beizusteuern.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: Trauer-Ode BWV 198
"Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl"
Auswahl: Rezitativ (Nr. 2)
Arie (Nr. 3)
<Tr. 7.>
<Tr. 8.>
__:__
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Interpreten: xx
Label: DG Archiv (LC 0113)
429 782-2
<Tr. 7.8.> Gesamt-Zeit: 4:35

Die Aufführung der Tauerode zu Ehren der verstorbenen Kurfürstin Christine Eberhardine von Sachsen sorgte im Nachhinein für Ärger, weil der Organist der Universitätskirche Johann Gottlieb Görner sich übergangen fühlte und ein Ausfall-Honorar forderte. Es war nicht das erste Mal, das Bach mit dem Organisten Görner aneinandergeriet, wobei es vor allem um Kompetenzstreitigkeiten und um Geld ging: Wer wo wie oft und für wieviel Taler spielen dürfe.

Der Fall Görner blieb nicht der einzige seiner Art. Bach war selbstbewußt genug, seine Rechte einzufordern, und es scheint ihm regelrecht Spaß gemacht zu haben, Schriftsätze im geschraubtesten Kanzlei-Deutsch an den Kurfürsten und den Rat der Stadt Leipzig zu verfassen: weil es Musikinstrumenten und Sängern fehle; weil der Subdiakon der Nicolaikirche vorschreiben wollte, welche Kirchenlieder zu singen seien; oder weil der Rektor der Thomasschule unrechtmäßig in die Belange des Chores eingreife. Worauf sich der Rektor Johann August Ernesti beklagt, ...

"... daß Ihm sein Vorsteheramt bei der Schule zu St. Thomae durch den Kantor schwer gemacht werde, indem derselbe gar nicht in der Schule täte, was ihm zu tun obliege -- vor allem, da derselbe jetzo ohnedem nur eine Singstunde hält, da er doch deren zwo zu halten schuldig, und also die Knaben nicht genug in der Musik geübet werden."

Klagen über Bach kamen auch von anderer Seite. Im Ratsprotoll vom 2. August 1730 heißt es:

"Es habe der Thomaskantor sich nicht so, wie es sein solle, aufgeführet. Er tue nicht allein nichts, sondern er wolle sich auch diesfalls nicht erklären, halte die Singestunden nicht, habe ohne Vorwissen des Herrn Bürgermeisters einen Chor Schüler aufs Land geschicket und sei ohne genommenen Urlaub verreiset etc. etc., welches ihm zu verweisen und er zu admonieren sei."

Weil er "über alle Maßen halsstarrig und incorrigibel" sei, wurde beschlossen, "dem Kantor die Besoldung zu verkümmern. Bei der Verteilung der jährlichen Akzidenzien (immerhin 270 Taler) ging Bach leer aus. Bach war allerdings diplomatisch genug, sich auf diese Vorwürfe gar nicht erst einzulassen, sondern richtete an den Rat ein zehn Seiten langes Schreiben, das er betitelte:

"Kurzer, jedoch höchstnötiger Entwurf einer wohlbestallten Kirchenmusik, nebst einigem unvorgreiflichen Bedenken von dem Verfall derselben."

Minutiös führt er auf, woran es der Leipziger Kirchenmusik mangelt: an Geld und Stipendien, und daraus resultierend an genügend guten Sängern und Instrumentalisten. Um wenigstens drei Kirchen ordentlich mit Musik bestücken zu können, benötige man 36 Sänger. Zur Verfügung standen Bach nicht einmal die Hälfte, die »ein musikalisch Naturell haben und dahero zur Musik zu gebrauchen seien«. Und bei der Instrumentalmusik herrschten ähnliche Verhältnisse, so daß der Thomaskantor ein Loch mit dem anderen stopfen mußte - Mangelverwaltung im 18. Jahrhundert! Daß Bach es unter solch widrigen Umständen überhaupt wagte, eine doppelchöriges Werk wie die "Matthäus-Passion" zur Aufführung zu bringen, muß da fast schon verwundern.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf"
Motette BWV 226
Interpreten: xx
Label: HMF (LC ____)
90 1231
<Tr. 1.> Gesamt-Zeit: 8:20

Ist es angesichts solcher Arbeitsverhältnisse, wie Bach sie in Leipzig vorfand, angesichts der Querelen und der fehlenden musikalischen Möglichkeiten, verwunderlich, daß er sich nach etwas Besserem umsah? Daß ihm das Leben als Hofkapellmeister wieder als künstlerisches Ideal erschien?

Immerhin: Nicht nur, daß er seinen Freund Carl Georg Erdmann, der als russische Diplomat in Danzig lebte, darum bat, sich für ihn nach einer »convenablen Station« umzuschauen. Zumindest zweimal unternahm Bach auch selbst Anstrengungen, wieder in Kontakt mit dem höfischen Musikleben zu treten: Dem Preußenkönig Friedrich dem Großen widmete er nach einem Besuch in Potsdam sein "Musikalisches Opfer" über ein Thema, das Friedrich der Große angeblich selbst vorgegeben hatte; und dem katholischen Kurfürsten Friedrich August dem Zweiten von Sachsen übersandte er 1733 das Kyrie und Gloria der späteren h-moll-Messe mit einem ungewohnt unterwürfigen Begleitschreiben:

"Durchlauchtigster Kurfürst, Gnädigster Herr,
Eurer Königlichen Hoheit überreiche ich in tiefster Devotion gegenwärtige geringe Arbeit von derjenigen Wissenschaft, welche ich in der Musik erlangt, mit ganz untertänigster Bitte, Sie wollen dieselbe nicht nach der schlechten Komposition, sondern nach Dero Welt berühmten Güte mit gnädigsten Augen anzusehen und mich darbei in dero mächtigste Protektion zu nehmen geruhen."

Und wieder einmal führt Bach aus, wie schlecht es ihm in Leipzig ergeht. Er klagt über "Bekränkung und Verminderung der Einkünfte", über die "wunderliche und der Musik wenig ergebene Leipziger Obrigkeit", und zwischen den Zeilen liest man, wie sehr es ihn von dieser "Krämerstadt" Leipzig fortzieht, wie sehr ihm an einem Hofamt oder doch zumindest an einem Titel als "Kurfürstlich Sächsischer Capellmeister" gelegen ist.

Musik-Nr.: 05
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: Messe h-moll BWV 232
Auswahl: Kyrie eleison (I) <CD 1, Tr. 1.> 9:05
Interpreten: xx
Label: EMI (LC 0542)
CDS 7 47 293 8
<CD 1, Tr. 1.> Gesamt-Zeit: 9:05
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