Niels Wilhelm Gade: Orchesterwerke

Dieser Text ist entstanden als Beitrag für:
Bibliothek der Meisterwerke -
Sinfonien, Konzerte, Ouvertüren.
Köln, Naumann & Göbel, S. 115-117

Einführung

Der 1817 in Kopenhagen geborene Niels Wilhelm Gade war, wie er einmal selbst schrieb, kompositorischer Autodidakt. Die Unterweisung im Violinspiel währte nur einige Jahre, bis er 1833 zunächst als "Aspirant" ohne Zusicherung eines regelmäßigen Gehaltes in der Königlichen Kapelle angestellt wurde. Um seinen lebensunterhalt zu verdienen, begann Gade damals zu komponieren, indem er anfänglich die Musiksprache Haydns und Mozarts nachahmte. Zu einem "fortschrittlicheren", stilistisch an Mendelssohn erinnernden Stil gelangte er erst 1841 mit der Ouvertüre "Nachklänge von Ossian", die den ersten Preis bei einem Wettbewerb des Kopenhagener Musikvereins erhielt.

Auf Einladung von Robert Schumann und Felix Mendelssohn-Bartholdy siedelte Gade 1843 nach Leipzig über. Drei Jahre später wurde er neben Mendelssohn Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters und erregte mit seinen ersten drei Sinfonien die einhellige Bewunderung der Musikwelt. Beim Ausbruch des deutsch-dänischen Kriegs (1848) mußte Gade von seinem Leipziger Posten allerdings zurücktreten. Er kehrte in die Heimat zurück und setzte sich fortan als Direktor des Kopenhagener Musikvereins für ein eigenständiges dänisches Musikleben ein.

Obwohl Gade schon in der damaligen Kopenhagener Zeit nicht mehr an seine ersten kompositorischen Erfolge anknüpfen konnte, feierte Robert Schumann seinen Freund 1853 in seinem Aufsatz "Neue Bahnen" noch als Wegbereiter und Vorboten jenes Stilwandels, der schließlich in das symphonische Schaffen von Johannes Brahms mündete. Gade starb 1890 als geachteter und geschätzter "musikalischer Organisator". Die meisten seiner Kompositionen, darunter sieben Opern, acht Sinfonien, ein Violinkonzert, zahlreiche Chorwerke, Ballette, Ouvertüren sowie Kammermusik und Klavierwerke, sind heutzutage weitgehend vergessen.

Ouvertüre "Nachklänge von Ossian" op. 1

Die keltisch-mythologischen Ossian-Nachdichtungen des schottischen Dichters James Macpherson (1765) und Johann Gottfried Herders Volksliedsammlungen haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei den Komponisten die Begeisterung für nationalhistorische Stoffe und volkstümliche Melodien geweckt. Nach dem Jahrhunderte langen Einfluß des italienischen Musik-Idioms erhielten nun (als Reiz des Neuen) altnordische Volksweisen Eingang in die orchestrale Klangwelt.

Angeregt wurde Gade zu seiner Ouvertüre durch eine Norwegen- und Schwedenreise im Jahre 1838; den äußeren Anlaß zu der Komposition gab dann ein Wettbewerb, den der Kopenhagener Musikverein 1839 ausgeschrieben hatte. Über die Partitur notierte Gade als Motto ein Zitat von Ludwig Uhland: "Formel hält uns nicht gebunden, unsere Kunst heißt Poesie." Damit legitimiert er die für damalige Verhältnisse freie formale Anlage des Werks. Die Regeln des klassischen Stils durchbricht Gade, um einer höheren poetischen Idee zu dienen, obwohl es hier allerdings noch kein literarisches Programm gibt (wie später etwa bei Franz Liszt).

Die Instrumentation der Ouvertüre ist überaus klangfarbenreich und effektvoll, wobei der Harfe (als Attribut des nordischen Barden) eine wichtige Rolle zukommt. Ansonsten bleibt das nordische National-Kolorit (im Gegensatz zu Carl Nielsen oder Edvard Grieg) eher unaufdringlich.

Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 5

Die Uraufführung, die Felix Mendelssohn-Bartholdy 1843 in Leipzig leitete, war der Grundstein von Gades Gades glanzvoller Leipziger Karriere. Zeichneten sich die "Nachklänge von Ossian" durch die formalen Freiheiten aus, so versuchte Gade in seiner ersten Sinfonie den umgekehrten Weg: eine national gefärbte melodische Grundsubstanz zur Grundlage einer großen symphonischen Form zu zwingen.

Der nordisch-archaische Balladenton zieht sich auch hier durch alle Sätze. Mittelalterliche Volksweisen mischen sich mit modalen Harmoniefolgen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Was jedoch fehlt, ist eine thematisch-motivische Entfaltung des musikalischen Materials. Die Melodien werden zwar immer wieder leicht verändert und in einen anderen klanglichen Zusammenhang gestellt, aber eine thematische Verarbeitung im Sinne eines musikalischen Prozesses findet nicht statt.

Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 20

Die zeitgenössischen Kritiker in Kopenhagen haben Gade des öfteren vorgeworfen, er sei mit seiner vierten Sinfonie der eigenen musikalischen Sprache untreu geworden und ahme den "deutschen" Stil nach, ohne jedoch "den rechten Ton zu treffen". In der Tat hat Gade hier die Pfade verlassen, den er 1839 mit den "Nachklängen von Ossian" eingeschlagen hatte. Grund dafür ist wohl zum einen die Erkenntnis gewesen, daß die Beschränkung auf das musikalische National-Kolorit auf Dauer zur künstlerischen Lähmung führt. Zum anderen bedarf die sinfonische Großform eines thematischen Materials, das nicht nur melodisch reizvoll ist, sondern mit dem sich motivisch arbeiten läßt.

In diesem Sinne ging Gade 1850 mit seiner vierten Sinfonie hinter seine früheren Arbeiten zurück und knüpfte an das sinfonische Schaffen von Beethoven und Schumann an. Neue Wege konnte er hier allerdings nicht einschlagen; man hört der vierten Sinfonie ihre Vorbilder allzu deutlich an.

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