Gustav Mahler: 5. Sinfonie

Dieser Beitrag ist entstanden als Booklet-Text für die CD-Produktion
Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 5
(Gürzenich-Orchester, Köln; Ltg.: James Conlon)
EMI Classics (LC 6646) 555 320-2. Prod. 1992/93, © 1994

Ich beginne jetzt mit der Fünften. Und ich sage, daß ich kein anderes Programm weiß als das: Die Musik ensteht ohne äußeren Anlaß. Sie ist in mir. Ich ergründe nichts und will mir später nicht bescheinigen lassen, daß es etwas anderes war. "Es" geht in mir um, "es" soll werden. Nichts anderes wird, und niemand soll fragen warum ...!

Mahlers briefliche Notiz an den befreundeten Musikwissenschaftler Guido Adler vom Juli 1901 war nicht unberechtigt: Seine ersten vier Sinfonien hatte der Komponist zunächst mit programmatischen Titeln und Erläuterungen versehen, sie aber bald schon zurückgezogen, als er merkte, daß diese Programme begannen, ein Eigenleben zu führen, und die Substanz der Musik eher verunklarten als erhellten. Die fünfte Sinfonie nun sollte sich dem Publikum ohne inhaltlichen Ballast, als reine, "absolute" Musik offenbaren. Zumindest war dies Mahlers ursprüngliche Idee, als er im Sommer 1901 mit der Komposition begann. Aber schon die Zeitgenossen spürten, daß sich hinter diesem Werk mehr verbarg als bloß eine "tönend bewegte Form". In den "Signalen aus der musikalischen Welt" heißt es anläßlich der Kölner Uraufführung im Oktober 1904:

Mahler kommt hier seiner "Sendung", der absoluten Musik ohne poetische Krücken zu dienen, näher als irgendwo: wenn früher einzelne Überschriften, wenn gar zu entlegene Orchestereffekte nach einem erläuternden Programm zu schreien schienen, so geht hier das Stimmungsgebiet, aus dem Mahler schöpft, restlos in Tönen auf, es drängt sich dem Hörer nirgends die Frage nach den poetischen Bildern, die dem Komponisten vorschwebten, auf. Nicht als ob das Werk sich nicht auf kräftigem Stimmungsuntergrund aufbaute. Der erste Satz ist augenscheinlich als Abkehr vom Leben zu verstehen, im zweiten fühlt der Schaffende durch eine neue Umgebung seinen Lebensmut wieder erwachen, und das Finale ist der Betätigung dieses Lebensmutes gewidmet.

Allein die Satzfolge ist schon so ungewöhnlich, daß sie bis heute zu programmatischen Spekulationen verführt: Der einleitende, distanziert-gravitätische Trauermarsch bildet zusammen mit dem aufwühlend klagenden Hauptteil die "erste Abtheilung" - als spalte sich die Abkehr vom Leben auf in eine "gesellschaftliche" und "individuelle" Trauer. Es folgt ein "chaotisches" Scherzo, von dem selbst Mahler behauptete, es sei ein "verdammter Satz, der eine lange Leidensgeschichte haben wird." Mit dem dritten Satz, dem Adagietto, hat es seine besondere Bewandtnis: Populär geworden ist dieses Stück seit Viscontis Verfilmung von Thomas Manns "Tod in Venedig" - als Inbegriff von Weltflucht und großbürgerlich-dekadenter Larmoyanz. Für Gustav Mahler hatte das Adagietto aber offensichtlich einen ganz anderen Bedeutungsgehalt. Die motivische Arbeit und Melodieführung, die Art der Instrumentalbegleitung und der atmosphärische Charakter verweisen auf das (etwa zur gleichen Zeit entstandene) Rückert-Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen", wo es in den letzten Zeilen heißt:

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel
Und ruh' in einem stillen Gebiet!
Ich leb' alleine in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied.

Das vokale programmatische Moment, das Mahler bewußt hatte ausklammern wollen, kommt durch diese kompositorische Reminiszenz zur Hintertüre wieder herein. Der Dirigent Willem Mengelberg, der mit Mahler befreundet war, notierte in seiner Dirigierpartitur zu Beginn des Satzes:

Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an Alma! Statt eines Briefes sandte er ihr dieses im Manuskript; weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden und schrieb ihm: Er solle kommen!!! (Beide haben mir dies erzählt!) Wenn Musik eine Sprache ist, so ist sie es hier - er sagt ihr alles in Tönen und Klängen, in: Musik.

Vielleicht liegt - bei aller Banalität - gerade in diesem biographischen Faktum der eigentliche Schlüssel zum Programm von Mahlers fünfter Sinfonie. Die Sommerferien der Jahre 1901 und 1902, in denen die Sinfonie entstand, war die Zeit, da Mahler die junge Alma Maria Schindler kennenlernte, sich in sie verliebte und sie heiratete, als sie ein Kind von ihm erwartete. Was die Musiksoziologen und Mahler-Apologeten in den 60er und 70er Jahren aus dem Werk gelesen haben - daß Mahler in dieser Musik gesellschaftliche und philosophische Weltkonflikte aufgearbeitet habe - läßt sich durchaus auch als ganz persönliches Dilemma des Komponisten deuten: als Zweifel, Angst, inneres Chaos, die Liebeserklärung und schließlich die neuerwachte Tatkraft.

Die Kölner Uraufführung am 18. Oktober 1904 wurde nicht der Erfolg, den Mahler sich erhofft hatte. Nach der Generalprobe schrieb er nach Wien an seine Frau Alma:

Es ist Alles passabel gegangen. Aber das Publikum - o Himmel - was soll es zu diesem Chaos, zu diesen Urweltsklängen, zu diesem sausenden, brüllenden, tosenden Meer für ein Gesicht machen? Was hat eine Schafherde zu einem "Brudersphären-Wettgesang" anderes zu sagen, als blöken!? O, könnt' ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen! Jetzt gehe ich an den Rhein, - der einzige Kölner, der nach der Premiere ruhig weiter seinen Weg nehmen wird, ohne mich für ein Monstrum zu erklären!

In der Tat - Mahlers Befürchtungen waren berechtigt. Das Kölner Publikum reagierte damals mit einigem Unverständnis, und der Musikkritiker Paul Hiller blökte:

Der Komponist hatte uns nicht musikalische Gedanken, spontane Eingebungen als Ergebnisse tiefinnerlicher Empfindungen mitzuteilen, nein, es war das Bedürfnis des vertrauten Kenners aller bekannten orchestralen Mittel und Techniken, der nach Sensationen lüsternen Mitwelt mit einem erstaunlichen kompositorischen Virtuosenstück aufzuwarten, einen Triumph der "Mache" zu zeitigen. Die "Mache" fühlten wir, der Triumph blieb aus. Daß Mahler die raffiniertesten Effekte der Instrumentierung zu Hilfe nimmt, könnte man ihm nicht verdenken, wenn er damit irgendwie Schönes oder auch nur im besseren künstlerischen Sinne Apartes erreicht hätte. Leider benutzt Mahler alle diese Effekte der Instrumentation lediglich zu einer großen Reihe von Absurditäten, und gefällt sich in Bizarrerien tollster Art. Der vielfach recht unverständliche Gedankengang des Werkes ließ das begreiflicherweise aufs höchste gespannte Auditorium nicht froh werden, so daß es nur zu einem schwachen Beifall, der von Opposition nicht frei blieb, kam.

Allerdings gab es auch damals schon Stimmen, die mit sicherem Gespür auf die Eigentümlichkeiten und verborgenen Reize der fünften Sinfonie hinwiesen. In den "Signalen aus der musikalischen Welt"etwa hieß es:

Man macht Mahler zuweilen eine gewisse Absichtlichkeit und Eigenwilligkeit der äußeren Wirkungen zum Vorwurf, aber den nämlichen Fehler begeht jeder, der in sich das Zeug zu was Besonderm fühlt, und mit einigem Entgegenkommen empfindet der Hörer desgleichen bald als berechtigte Eigentümlichkeit. Man soll in einer Zeit, wo jeder das Recht beansprucht, sich auszuleben, dasselbe einem Manne von so gewaltigem Können wie Mahler nicht verwehren. Das Werk ist dazu geschaffen, den Widerspruch zu entwaffnen, den Mahler bisher vielfach entfachte, umsomehr, als es bei all' seiner Modernität doch in das Gebiet der von neuen Tonsetzern vernachlässigten absoluten Musik gehört.

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Für den derzeitigen Chef-Dirigenten des Kölner Gürzenich-Orchesters James Conlon ist Mahlers Fünfte nicht nur wegen des lokalen Bezugs eine Herzensangelegenheit. Conlon sieht in Mahler eine der prägenden künstlerischen Kräfte zu Beginn dieses Jahrhunderts, der für das romantische Erbe eine neue musikalische Architektur geschaffen hat:

Ohne ihn ist ein großer Bestandteil der Musik unseres Jahrhunderts und auch der heutigen Komponisten nicht vorstellbar. Seine Motive und Konflikte heißen: Der Außenseiter, Quo vadis? Mensch und Gott oder Natur, Natur contra Zivilisation, das Groteske und Vulgäre als Gegenspiel zur Empfindsamkeit, zur Sehnsucht nach Mutterliebe, erotischer Erfüllung, Kampf und letzter Triumph.

Eine Musik also, die sich nicht nur im Wohlklang erschöpft, sondern in der die Widersprüche der menschlichen Existenz unmittelbar angesprochen werden. Daß der rheinische Energiekonzern rhenag die Produktion eines solchen Werkes fördert, ist ein Zeichen dafür, daß die rhenag sich nicht als bloßer Energielieferant versteht, sondern sich auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußt ist. Die Partnerschaft zwischen Künstlern und der Wirtschaft ermöglicht es, kulturelle Ereignisse einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Und es zeigt sich auch: Wenn ökonomische Vernunft und künstlerische Fantasiee aufeinander zugehen, ermöglicht dies die Verwirklichung neuer kreativer Ideen.

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