Georg Philipp Telemann: Suiten für Orchester ("Ouvertüren")

Ouverture hat den Nahmen vom Eröffnen, weil diese Instrumental-Pièce gleichsam die Thuer zu den Suiten oder folgenden Sachen aufschließet.
(Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexikon, 1732)

Wer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Ouvertüren sprach, dachte weniger an die instrumentale Einleitung zu einer Oper als an die feierliche Eröffnung einer Folge von Tanzsätzen. Aufgetaucht war der Begriff erstmals 1641 am Hofe Ludwigs XIV., der für seine Tanzleidenschaft einen angemessen würdevollen Rahmen verlangte. Lully hatte in den folgenden Jahren dem Eröffnungstanz mit seinem gravitätisch punktierten Rhythmus und dem fugierten, rascheren Mittelteil einen unverwechselbaren Charakter verliehen, so daß die Ouvertüre bald schon für das Ganze stand - als Synonym für jedwede Folge (Suite) von Tanzsätzen.

In Deutschland zeigten vor allem die Fürstenhöfe, die sich bemühten, die königliche Hofhaltung in Versailles zu imitieren, Interesse an dieser Musik. So verwundert es nicht, daß Telemann die meisten seiner Ouvertüren zwischen 1704 und 1708 in Sorau (Schlesien) komponierte, als er am Hofe des Grafen Erdmann von Promnitz das Amt des Hofkapellmeisters inne hatte. In seiner autobiographischen Skizze für Matthesons "Grundlage einer musicalischen Ehrenpforte" schreibt Telemann 1740:

Das gläntzende Wesen dieses auf fürstlichem Fuß neu- eingerichtete Hofes munterte mich zu feurigen Unternehmungen auf, besonders in Instrumentalsachen, worunter ich die Ouvertüren mit ihren Nebenstücken vorzüglich erwehlete, weil der Herr Graf kurtz vorher aus Franckreich wiedergekommen war, und also dieselben liebte. Ich wurde des Lulli, Campra und andrer guten Meister Arbeit habhafft und legte mich fast gantz auf derselben Schreibart, so daß ich der Ouvertüren in zwey Jahren bei 200. zusammen brachte.

Erhalten sind von den 200 Ouvertüren allerdings nur noch 118 - der größte Teil in handschriftlichen Kopien, die Telemann für seine weniger begabten Kapellmeister-Kollegen anfertigen ließ und auf Anfrage in ganz Deutschland verschickte. Immerhin verbreitete sich damit auch der Name und Ruhm des Verfassers, den der Musikgelehrte Johann Mattheson 1740 mit dem Vers besang:

Ein Lulli wird gerühmt; Corelli läßt sich loben;
Nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.

Was die Zeitgenossen an Telemann schätzten, war seine Fähigkeit, den allgemeinen Musikgeschmack zu treffen, ohne dabei ins Triviale abzugleiten. Er griff immer wieder die neuesten Musikströmungen auf, so daß seine Kompositionen niemals langweilig oder altmodisch klangen. Der Schriftsteller Johann Christoph Gottsched, der solch modischen Neuerungen eher skeptisch gegenüberstand, befand 1728 über Telemann:

Sonderlich höre ich von dem obgedachten Hrn. Telemann rühmen, daß er sich nach dem Geschmacke aller Liebhaber zu richten weiß. Er folget zuweilen der Welschen, zuweilen der Französischen, offtmahls auch einer vermischten Art im Setzen seiner Stücke. Er vermeidet alle ausschweifende Schwierigkeiten, die nur Meistern gefallen können, und ziehet die lieblichen Abwechselungen der Thöne allezeit den weitgesuchten vor, ob sie gleich künstlicher seyn möchten. Und was ist vernünfftiger als dieses? Denn da die Music zum Vergnügen des Menschen dienen soll; so muß ja ein Künstler ein grösseres Lob verdienen, wenn er bey seinen Zuhörern eine lächelnde Mine, und vergnügte Stellung wircket; als wenn er bloß eine ängstliche Verwunderung, und lauter in Falten gezogene Angesichter verursachet hätte.

Was Telemann zu Lebzeiten den Ruf unerschöpflicher Produktivität eingebracht hatte, brachte ihn ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod in Mißkredit. Die romantische Auffassung, nach der ein Kunstwerk nur unter Schmerzen und nicht täglich entstehen könne, stempelte Telemann als drittklassigen "Vielschreiber" ab. (Daß Bach seine Kantaten fast ebenso schnell produzierte, wurde in diesem Zusammenhang tunlichst verschwiegen!) Für annähernd zweihundert Jahre fiel Telemann dem Vergessen anheim. Damit war eingetreten, was die fortschrittgläubigen, auf stetige Erneuerung bedachten Aufklärer wie Mattheson durchaus als Ideal einer jeden Musikepoche ansahen:

Die Mode bewirkt, daß musicalische Sachen ein rechtes Mückenleben haben / und viel eher veralten und erkalten / als andere. Wenn eine Komposition einige Monate / will nicht sagen / Jahre auf sich hat, werden indessen viele Umstände eine fremde Gestalt angenommen haben / welche dannenhero eine merkliche Änderung in den Zierrathen erheischen. Die Praxis und unsere heutige beste Komposition, ob sie wohl pro tempore aller andern vorzuziehen / wird gewißlich nach 50. Jahren wenig oder nichts mehr gelten.

Was Mattheson zu erwähnen vergißt: daß die Komponisten selbst es sind, die den musikalischen Fortschritt vorantreiben. Die Suiten Telemanns sind hierfür bezeichnend. War die Abfolge der traditionellen Suite duch die stereotype Abfolge Allemande - Courante - Sarabande - Gigue einst streng reglementiert, so fügt Telemann nun zusammen, was in der Gunst des Publikums am besten ankommt. Während die altertümliche, langatmige Allemande, die Sarabande und Gigue wegfallen, finden "Mode"-Tänze und Effektstücke wie die Hornpipe oder das Combattans neue Aufnahme.

Johann Mattheson, der mit Telemann befreundet war und dessen Arbeit aus nächster Nähe kannte, hat in seiner Schrift "Der vollkommene Kapellmeister" (1739) versucht, den Charakter zumindest der wichtigsten zeitgenössischen Suitensätze zu beschreiben. Der Vergleich zwischen theoretischer Musikästhetik und erklingender Musik mag reizvoll sein:

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