Edgard Varèse (1883-1965): Orchesterwerke

Dieser Text ist entstanden als Beitrag für:
Bibliothek der Meisterwerke -
Sinfonien, Konzerte, Ouvertüren.
Köln, Naumann & Göbel, S. 349-352

Einführung

Die Bedeutung Varèses für die neuere musikalische Entwicklung ist lange Zeit nicht recht erkannt worden - wohl nicht zuletzt deshalb, weil Varèse sich jeder stilistischen Vereinnahmung entzog: Weder gründete er eine Schule noch schloß er sich einer bestehenden Richtung an. Dabei verliefen die kompositorischen Anfänge des musikalischen Außenseiter in den traditionellen Bahnen. Zwischen 1904 und 1906 nahm er Kompositionsunterricht an der Pariser Schola Cantorum bei Albert Roussel und Vincent d'Indy. Der französische spätromantische Stil seiner Lehrer muß auch Varèses eigene frühe Arbeiten entscheidend geprägt haben. Allerdings ist zuwenig darüber bekannt: Die meisten Werke fielen einem Wohnungsbrand zum Opfer, und das übrige hat Varèse selbst vernichtet, als er 1915 nach New York übersiedelte und einen musikalischen Neuanfang wagte.

Schon Mitte der zwanziger Jahre beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und experimentierte mit Schallaufnahmen, die er als wesentlichen kompositorischen Bestandteil in seine Konzertaufführungen integrierte. Auf diesem Gebiet war Varèse seiner Zeit weit voraus, und selbst Musikkritiker, die der modernen Musik wohlwollend gegenüberstanden, beschrieben seine Musik als "seelenlosen Maschinen- und Großstadtlärm, den kein Ohr auf Dauer aushält." Für Varèse war Fortschritt - technologischer wie künstlerischer - ein Segen, und er selbst empfand seine Musik als eine "Meditation über die Empfindung, die ein Mensch hat, wenn er sich über die außergewöhnlichen Möglichkeiten unserer heutigen Zivilisation freut."

Bezeichnend für sein nicht sehr umfangreiches Oeuvre sind die unkonventionellen Instrumentalgruppierungen; eine wichtige Rolle spielen dabei Schlagzeug und Sirenenklänge, die das System fest definierter Tonhöhen außer Kraft setzen. Die Stücke dauern meist zwischen fünf und fünfzehn Minuten, wobei kurze, grell gefärbte melodische Floskeln immer wieder in statisches Klangbilder übergehen, die den Eindruck erwecken, als gebe es in dieser Musik keine Entwicklungen. Varèses Musik entzieht sich denn auch allen Versuchen einer formalen Einordung: Es gibt keine klaren Formstrukturen, wie auch keine eindeutige Gattungszuordnung möglich ist. Ähnliches gilt auch für die Titel, die Varèse seinen Werken gab:

Die Titel sind ohne Bedeutung. Sie dienen nur als passendes Mittel, um das Werk zu katalogisieren. Ich gestehe, daß die Wahl meiner Titel mir Spaß bereitet, so etwas wie ein Elternvergnügen bei der Namensgebung für ein neugeborenes Kind - sehr verschieden von dem viel gewaltigeren Geschäft der Zeugung.

Amériques (1918-22)

"Amériques" ist Varèses erste Arbeit, nachdem er Berlin verlassen und mit den traditionellen Kompositionsmustern gebrochen hatte. Dieses Werk, das am ehesten mit einer einsätzigen Symphonischen Dichtung zu vergleichen ist, verlangt ein Orchester von 140 Spielern, wobei Varèse die Musiker allerdings nur selten gleichzeitig spielen läßt. Vielmehr werden immer wieder unterschiedliche Klangfarben und Klangkombinationen von Bläsern, Streichern und Schlagzeug gegeneinandergesetzt. In einer autobiographischen Skizze beschreibt Varèse die Komposition "als Kindheitsphantasien über Amerika, als erste Klangeindrücke in New York", und mehr noch: "Ich betrachte den Titel "Amériques" nicht in erste Linie geographisch, sondern mehr symbolisch für die Entdeckung neuer Welten, auf der Erde, am Himmel oder im menschlichen Geist."

Hypersism

Aufsehen erregte das etwa fünf Minuten lange Werk bei seiner Uraufführung 1923 in New York, weil Varèse hier scharfe Bläserklänge mit einem umfangreichen Schlagzeugapparat kombiniert Der Einsatz von Amboß, Peitsche und Sirene provozierten in der damaligen Kritik den Vergleich vom "Feuerarlam im Zoologischen Garten".

Intégrales

Von Varèses ursprünglicher Idee, mit Intégrales eine Musik zu schaffen, die sich auch als Raumklang verändert, ist wenig geblieben - die Möglichkeiten elektroakustischer Schallumwandlung und -bearbeitung steckten Mitte der jede zwanziger Jahre noch in ihren Anfängen. So blieb es denn bei einer für Varèse "konventionellen" Konzertbesetzung mit Bläsern und Schlagzeug. Das Grundmotiv der Komposition ist ein durchdringender Signalruf der Klarinette, der bei jeder melodischen Veränderung auch eine Veränderung eine Veränderung der statischen Nachbarstrukturen bewirkt, so daß auch ohne den Einsatz räumlich getrennter Klangquellen der Eindruck eines mobile-artigen Kreisens entsteht.

Arcana

Die Partitur fordert 119 Musiker, darunter zwölf Schlagzeuger, für eine Dauer von etwa 15 Minuten. Vorangestellt ist dem Werk ein längerer Abschnitt aus den alchemistischen Schriften des Naturforschers Paracelsus (1493-1541), wonach Arcana das imaginäre Reich der Geheimnisse ist, in dem der Forscher unumschränkter Herrscher ist. Inwieweit dieser Hinweis programmatisch zu verstehen ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Entstanden zwischen 1925 und 1927 besitzt es in seiner archaisch-eruptiven Klanggewalt Ähnlichkeiten mit Strawinskys "Sacre du Printemps", Immer wieder wird der Hörer in klangliche Wechselbäder gestoßen, bauen sich in rascher Folge Fortissimo-Höhepunkte und Klangballungen auf, die abrupt durch lange Generalpausen oder leise Streichklänge beendet werden.

Ionisation

Nachdem Varèse in den zwanziger Jahren mit der Tonhöhe experimentiert hatte und zu einer Konzentration melodischer und harmonischer Elemente gefunden hatte, versuchte er 1929, zu einer ähnlichen Autonomie des Rhythmus zu gelangen. "Ionisation" ist geschrieben für 13 Schlagzeuger an 37 Schlaginstrumenten, d.h. die musikalsiche Entwicklung ist reduziert auf (Schlagzeug-)Klangfarbe und Rhythmus. Diese dynamisch-rhythmische Energie-Entfaltung, die damit einhergeht, erklärt wohl auch den Titel: In der Physik beschreibt Ionisation die Abspaltung von Elektronen durch Energiezufuhr. Was auffällt: daß Varèse hier erstmalig auf traditionelle formale Kriterien zurückgegriffen hat. Ähnlich wie in der Sonatensatzform finden sich hier zwei gegensätzliche Themenbezirke mit Wiederholungen, Überleitungs- und Durchführungsepisoden.

Déserts

Ende der vierziger Jahre plante Varèse ein "multimediales" Projekt mit dem Titel "Déserts" ("Wüsten"). Gedacht war an ein Miteinander von Film, Bühnendarstellung und Klang - mit der Absicht, die Einsamkeit des Menschen in der Natur, aber auch mit sich selbst darzustellen. Während Varèse die Arbeit an der Musik 1949 abschloß, sind der Film und das Bühnengeschehen über das Stadium der Planung nie hinausgelangt. Geschrieben ist Déserts für große Bläserbesetzung, Klavier, großes Schlagzeug (47 Instrumente) und Tonbandzuspielung. Die vier Tonbandeinspielungen (die gleichsam als Instrumente behandelt werden) hat Varèse 1961 erstellt; sie basieren zum Teil auf Industriegeräuschen, die durch elektronische Verfahren gefiltert, verwandelt, transponiert und gemischt werden.

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