Das Original gilt wenig

Bearbeitungen, Paraphrasen, Transkriptionen

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Deutschlandfunk, Köln
("Historische Aufnahmen")

Exposé

Chopin-Nocturnes für Violine bearbeitet, Bachs Orgelwerke auf dem Klavier, der obligatorische "Hummelflug" und Gounods berüchtigtes "Ave Maria", ganz zu schweigen von den unzähligen Opernparaphrasen: In den ersten Jahrzehnten der Schallplatte spielten Bearbeitungen eine wichtigere Rolle als die Originalwerke. Und nicht einmal die Originale waren sicher: Wer auf sich hielt, brillierte mit Oktavverdopplungen oder fügte die ein oder andere Kadenz ein, um seine Fingerfertigkeit unter Beweis zu stellen.

"Texttreue" und "historische Aufführungspraxis" waren noch bis in die 50er Jahre für viele Interpreten Fremdworte. Aber wer heutzutage über Bearbeitungen die Nase rümpft, sollte bedenken, daß schon Bach diesem Prinzip gehuldigt hat, und die Aufführungsgepflogenheiten zu Beginn unseres Jahrhunderts auf eine lange Tradition zurückgehen ...

Sendemanuskript
Musik-Nr.: 01
Komponist: Ludwig van Beethoven / Franz Liszt (Bearb.)
Werk-Titel: Sinfonie Nr. 5 in c-moll, op. 67
Auswahl: 1. Satz <Track 1.> 1:30
Interpreten: Glenn Gould (Klavier)
Aufn.: 1968
Label: Sony (LC 6868)
SMK 52636
<Track 1.> Gesamt-Zeit: 1:30
Archiv-Nummer: 6k-B054.01
Technik: MUSIK ausblenden bei 1:29

Als der kanadische Pianist Glenn Gould 1968 die Lisztsche Klavierfassung von Beethovens Fünfter Sinfonie auf Schallplatte einspielte, war dies für ihn nichts weiter als ein "musikalischer Scherz". Das Original ist hinlänglich bekannt, und also darf jedermann den Kopf schütteln, wie armselig doch die originale Orchester-Partitur auf dem Klavier klingt: Zehn Finger, selbst wenn sie einem Tasten-Virtuosen gehören, können selbst mithilfe moderner Aufnahmetechnik nicht konkurrieren gegen ein ausgewachsenes Sinfonieorchester.

Um das Absurde dieser Klavierbearbeitung auf die Spitze zu treiben, hat Glenn Gould diese Schallplatten-Veröffentlichung noch garniert mit einigen fingierten Kritiken (die natürlich allesamt vernichtend sind), mit einem psychatrischen Gutachten eines gewissen Doktor Flemming über den Größenwahn der Klavierspieler, und zu guter Letzt läßt er noch den Amerika-Korrespondenten der Zeitschrift der ungarischen Einheitsgewerkschaft der Musikschaffenden zu Wort kommen mit einem herzzerreißenden Berichten über arbeitslose Orchestermusiker in den Vereinigten Staaten:

Was würdest Du sagen, geliebter Franz Liszt, wenn Du wüßtest, daß Dein Werk nur dazu dient, einige wenige zu bereichern und die vielen anderen ärmer zu machen. Du suchtest mit Deinen Transkriptionen weder Ruhm noch Profit. Aber nun sind wieder einmal achtzig Orchestermusiker durch Dich arbeitslos geworden, achtzig Männer, deren kranke und frierende Kinder heute noch mehr darben müssen, nur weil ein geldgieriger, charakterloser Pianist seine Seele dem Dollar verkauft hat und Euch um Arbeit und Lohn bringt.

Glenn Gould hatte gut lästern - für ihn war das Medium Schallplatte, mit dem sich jedes Orchester und jede Opernbühne ins heimische Wohnzimmer holen läßt, etwas Selbstverständliches. Aber noch zu Beginn dieses Jahrhunderts sah die Situation anders aus: Bearbeitungen waren für viele Musikliebhaber die einzige Möglichkeit, die Orchester- und Opernliteratur überhaupt kennenzulernen. Vielfach wurden die Kompositionen erst populär durch Transkriptionen, Paraphrasen und die obligatorischen "Variationen über ein Thema von ...". Beethoven-Sinfonien bearbeitet für zwei Flöten oder Paraphrasen über Verdi-Opern für Violine und Klavier (selbstverständlich leicht gesetzt) waren das tägliche Brot der damaligen bürgerlichen Hausmusik. Und nicht viel anders gestaltete sich auch das Konzert-Repertoire der reisenden Virtuosen - die es natürlich nicht versäumten, bei ihren Darbietungen ihr artistisches Feuerwerk abzubrennen.

Als die Freiburger Orgelbau-Firma Welte zu Beginn dieses Jahrhunderts die ersten selbsttätig spielenden Klaviere, die sogenannten Welte-Mignons, auf den Markt brachte, waren es denn auch in erste Linie solche Bearbeitungen, die auf den gelochten Papierstreifen angeboten wurden: die Ouvertüre zum "Freischütz", das "Tristan"-Vorspiel oder die Lisztsche Paraphrase über Verdis "Rigoletto" in einer virtuos übersteigerten Fassung von Ferruccio Busoni - hier von Busoni selbst gespielt ...

Musik-Nr.: 02
Komponist: Franz Liszt
Werk-Titel: Rigoletto-Paraphrase
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Aufn. 1905 (Welte-Mignon)
Label: Intercord (LC 1109)
Int 860.856
<CD 1, Tr. 05.> Gesamt-Zeit: 5:35
Archiv-Nummer: 6k-L014
Technik: MUSIK ausblenden bei 5:35

Ferruccio Busoni, nach Franz Liszt wohl einer der größten Klaviervirtuosen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hat (vor allem in jungen Jahren) zahlreiche Orchester- und Orgelkompositionen für Klavier bearbeitet und dies auch versucht, musikästhetisch zu legitimieren:

Was der Tonsetzer durch das Aufzeichnen notgedrungen von seiner Inspiration einbüßt, das soll der Vortragende durch seine eigene Inspiration wiederherstellen. Jede Notation ist schon die Transkription eines abstrakten Einfalls. Die Form- und Entscheidungsmittel, für die sich ein Komponist entscheiden muß, setzen mehr die engen Grenzen als daß sie Möglichkeiten eröffnen.

Laut Busoni sind also weder die Form noch die Besetzung einer Komposition verbindlich. Der geschriebene Notentext bildet lediglich ein Gerüst, das der Interpret nach seinem eigenen Geschmack füllen darf. Damit sind der Interpreten-Willkür Tür und Tor geöffnet. Das Orginal wird zum Steinbruch, aus dem der Virtuose sich die schönsten Stücke herausbrechen kann, um daraus etwas Neues (und mehr oder weniger Originelles) zu schaffen. So daß der Hörer bisweilen Mühe hat, die ursprüngliche Herkunft der Musik wiederzuerkennen.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Vladimir Horowitz (nach Georges Bizet)
Werk-Titel: Variationen über ein Thema aus "Carmen"
Interpreten: Vladimir Horowitz (Klavier)
Aufn.: 1947
Label: RCA (LC 0316)
GD 87 755
<Track 1.> Gesamt-Zeit: 3:32
Archiv-Nummer: ____

Dies also war Vladimir Horowitz mit seiner eigenen Version des Zigeunertanzes aus "Carmen". Die Aufnahme stammt von 1947 - aus einer Zeit, als solche reißerischen Virtuosenkunststücke fast schon außer Mode waren. Was jemanden wie Horowitz, der noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts aufgewachsen war, nicht weiter kümmerte. Bis ins hohe Alter hat er mit Bearbeitungen aller Art sein Publikum unterhalten - mit einer Portion Koketterie und nicht ganz ohne ironisches Augenzwinkern.

Durchaus ernst gemeint hat es indes Richard Strauss, als er zu Beginn dieses Jahrhunderts die zentralen Stellen aus seinen Opern und sinfonischen Dichtungen auf den Klavierrollen der Firma Welte einspielte. Immer wieder hatte er sich darüber beklagt, daß die Dirigenten seine Partituren nicht sorgfältig genug studierten, die Tempi zu schnell nahmen oder Phrasierungsangaben ignorierten. "Wenn Sie schon nicht Noten lesen können", schrieb Strauss einmal verärgert an einen Kollegen, "das Hören werden Sie ja wohl nicht verlernt haben." - Hier nun als Hörprobe Richard Strauss mit seiner eigenen Auffassung von der Liebesszene aus seinem sinfonischen "Heldenleben" op. 40.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Richard Strauss
Werk-Titel: Ein Heldenleben. Sinfonische Dichtung op. 40
Auswahl: Liebesszene <Track 13.> 3:44
Interpreten: Richard Strauss (Klavier)
Aufn.: 1906
Label: Tel (LC 3706)
8.43932
<Track 13.> Gesamt-Zeit: 3:44
Archiv-Nummer: ____

Dem Komponisten selber wird man das Recht nicht absprechen, seine eigenen Werke zu bearbeiten und zu instrumentieren, wie es ihm beliebt. In allen anderen Fällen drängt sich die Frage auf, ob ein derartiges Vorgehen legitim ist? - Die Antwort fällt nicht leicht: Denn sind nicht auch Bachs Cembalowerke auf dem modernen Konzertflügel gepielt schon eine Bearbeitung, die den orignalen Klangeindruck verfremdet? Und was wiegt schwerer: die Unverletztlichkeit der originalen Klanggestalt oder die Chance, eine Komposition in effektvoller Gewandung einem breiteren Publikum überhaupt erst bekannt zu machen?

Als Franz Liszt den Schubertschen "Erlkönig" für Klavier solo transkribierte, hat er damit Schubert überhaupt erst populär gemacht. Und ähnlich verhält es sich mit der d-moll-Chaconne für Violine solo von Johann Sebastina Bach: Erst die Klaviertranskriptionen von Johannes Brahms und später Ferruccio Busoni vermochten die Geiger davon zu überzeugen, daß die Bachschen Sonaten und Suiten für Violine solo auch für den öffentlichen Vortrag lohnenswert sind ...

Musik-Nr.: 05
Komponist: Johann Seb. Bach (Bearb.: F. Busoni)
Werk-Titel: Partita f. Violine solo in d-moll, BWV 1004
Auswahl: Chaconne (Beginn) <CD 1, Tr. 01.> 4:05
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Aufn.: 1925 (Duo Art)
Label: Fonè (LC ____)
90 F 13
<CD 1, Tr. 01.> Gesamt-Zeit: 4:05
Archiv-Nummer: 6i B012
Technik: MUSIK ausblenden bei 4:05

Während man Busonis Transkription der Bachschen Violin-Chaconne für Klavier noch einige Reize (und vor allem einen historischen Wert) abgewinnen kann, läuft die folgende Aufnahme Gefahr, unter die Rubrik "musikalischer Kitsch" eingeordnet zu werden: 1947 spielte der amerikanische Dirigent Leopold Stokowski die berühmte Orgel-Toccata in-d moll mit seinem Sinfonieorchester ein und begründete dies mit den Worten:

Bestimmte Kompositionen Bachs sind von der Anlage her derart umfassend, daß sie einen großen Raum benötigen. Wenn Bach die exzellenten heutigen Orchester zur Verfügung gehabt hätte, welch wunderbare Orchestermusik hätte er geschaffen! Die unbegrenzten Möglichkeiten des modernen Orchesters hätten auch ihn zu neuen Höhenflügen seiner Phantasie inspiriert!

Eine Argumentation, die sich heutzutage kein ernsthafter Musiker mehr wagen würde, in den Mund zu nehmen. Wenn Bach das moderne Orchester gekannt hätte, wäre ihm sicherlich anderes eingefallen als Orchestersuiten oder die Brandenburgischen Konzerte! - Was Stokowskis Orchester-Bearbeitung der Bachschen Orgel-Toccata anbelangt, so tat er letztlich nichts anderes als jeder Organist an seinem Instrument: Stokowski registrierte die einzelnen Stimmen und Abschnitte auf möglichst effektvolle Weise, arbeitete dabei allerdings mit pathetisch überzogenen Steigerungen und Akzenten, wie sie kein Orgelspieler realisieren kann - mit dem Ergebnis, daß das Ganze sich anhört wie die Untermalung zu einem Hollywood-Breitwandfilm ...

Musik-Nr.: 06
Komponist: Johann Seb. Bach (Bearb.: L. Stokowski)
Werk-Titel: Toccata und Fuge für Orgel in d-moll, BWV 565
Interpreten: Stokowski Symphony Orchestra
Ltg.: Stokowski, Leopold
(Aufn.: 1947)
Label: RCA Victor (LC 0316)
GD 60922
<CD 1, Tr. __.> Gesamt-Zeit: 3:10
Archiv-Nummer: B9 001
Technik: MUSIK ausblenden bei 3:08

Stokowskis Orchesterbearbeitung der Bachschen d-moll-Toccata für Orgel mag bei eingeweihten Musikkennern sicherlich ein indigniertes Naserümpfen hervorrufen - und dennoch: Die Aufnahme ist in den Vereingten Staaten lange Zeit populärer gewesen als die Originalfassung. Aber wieviele kennen auch heutzutage Beethovens Neunte nur als Song of Joy oder Mozarts g-moll-Sinfonie in der Drei-Minuten-Fassung des Pop-Dirigenten Waldo de los Rios?

Welches Eigenleben Bearbeitungen entwickeln können, schildert die englische Pianistin Myra Hess in ihren Memoiren: Als sie in den Zwanziger Jahren im Zug einen Mitreisenden einen Ausschnitt aus einer Bach-Kantate pfeifen hörte, sprach sie ihn erfreut an, er liebe ja wohl offensichtlich Bach. Worauf sie zur Antwort erhielt, daß das Stück nicht von Bach sei, sondern von einer zeitgenössischen englischen Pianistin namens Myra Hess. Es handelte sich um den Choral "Jesus bleibet meine Freude", den Myra Hess für Klavier bearbeitet hatte.

Ein Stück Musik, dessen romantisch-sentimentale Einfärbung so gar nicht der Bachschen Klangwelt entspricht, das aber spätestens seit der Interpretation von Dinu Lipatti wohl kein Musikliebhaber mehr missen möchte. Hier nun eine Aufnahme, die Myra Hess 1928 selbst eingespielt hat.

Musik-Nr.: 07
Komponist: Johann Sebastian Bach (Bearb.: M. Hess)
Werk-Titel: Jesu bleibet meine Freude, BWV 147
Interpreten: Myra Hess (Klavier)
Aufn.: 1928
Label: Pearl (LC ____)
GEMM CD 9462
<CD 1, Tr. 14.> Gesamt-Zeit: 3:10
Archiv-Nummer: 6i H002

Das Phänomen der Bearbeitungen hat immer auch ewas damit zu tun, daß die Musiker gerne nach dem Repertoire ihres Nachbarn schielen. Vor allem sind es dabei die Pianisten, die sich am liebsten die gesamte musikalische Literatur zu eigen machen würden: Opernparaphrasen, Transkriptionen sinfonischer Werke, Virtuosenstücke, die ursprünglich für Geige komponiert sind ... - vor den Klavierspielern ist allem Anschein nach kein Musikstück sicher. Und wenn Paganini es eben nicht für nötig hielt, etwas Angemessenes für Klavier zu komponieren, so war es für einen Franz Liszt ein Leichtes, dessen akrobatische Saitensprünge auf's Klavier zu übertragen.

In diesem Sinne rauschte und klingelte es in der Frühzeit der Schallplatte vor sich hin, und man mag sich mitunter wundern, wieviel saure Übezeit damals in musikalische Belanglosigkeiten gesteckt wurden: drittklassige Kompositionen in viertklassigen Bearbeitungen - wobei die Geiger den Pianisten in nichts nachstanden. Von Fritz Keisler etwa heißt es, daß Dreiviertel seines Repertoires aus Bearbeitungen und effektvollen Virtuosenstücken bestand. Und auch Nathan Milstein pflegte in seinen jungen Jahren eher das halbseidene Salon-Repertoire als die klassische Literatur. Allerdings - wenn Milstein in einer Aufnahme von 1936 das Chopinn-Nocturne in c moll für Violine und Klavier bearbeitet, so sollte - ungeachtet aller berechtigten Authentizitätsbedenken - doch mancher Pianist einmal die Ohren spitzen, wie melodiös eine Chopinsche Kantilene klingen kann.

Musik-Nr.: 08
Komponist: Frédéric Chopin
Werk-Titel: Nocturne f. Klav. Nr. 21 in c-moll, bearb. für Violine und Klavier
Interpreten: Nathan Milstein (Violine)
Leopold Mittmann (Klavier)
Aufn.: 1936
Label: Pearl (LC ____)
GEMM CD 9401
<CD 1, Tr. 07.> Gesamt-Zeit: 4:00
Archiv-Nummer: 5s1 007
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