Czerny: Pianoforte-Schule ... op. 500,III

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Kap. 4 [ b / 2. Teil]

  1. <32> Die längern Geschmacksverzierungen sind wahre Verschönerungen jeder Melodie, wenn sie der Tonsetzer am gehörigen Orte anbringt, und der Spieler mit Delikatesse und richtiger Betonung ausführt.

    Sie heben den einfachen Gesang, welcher ausserdem auf dem Pianoforte nicht jene Wirkung hervorbringen könnte, die der Menschenstimme und dem Saiten- oder Blasinstrumente zur Gebothe steht, und geben dem Spieler Gelegenheit, die Zartheit seiner Empfindungen auf die mannigfachste Art auszudrücken.

    Aber nur derjenige Spieler, der einen sehr hohen Grad von Geläufigkeit und Leichtigkeit besitzt, kann sie würdig ausführen, da ein plumper, unbehülflicher und übelberechneter Vortrag dieselben und ihre Wirkungen in eben dem Grade widrig machen kann, als im Gegentheil ihr Reitz jeden Zuhörer ansprechen muss.

    <33> Da dieselben immer nur in der rechten Hand vorkommen, während die Linke irgend ein einfaches Accompagnement ausführt, und da sie meistens aus einer ungleichen Zahl von Noten bestehen, welche oft schwer mit der Begleitung einzutheilen sind, so hat der Spieler vorzüglich darauf zu sehen, dass er sie frei und unabhängig von der Linken vorzutragen wisse, indem eine allzuängstliche Eintheilung das Ganze steif und wirkungslos macht.

    Immer muss es scheinen, als ob diese Verzierungen dem Spieler eben erst während dem Spiele einfielen, und als eigene Fantasie und Improvisation vorgetragen würden.

    Hier folgen Beispiele.

[Notenbeispiel 33-1]

Hier ist eine und dieselbe Stelle auf 4 verschiedene Arten verziert.

In No. 1 ist die Eintheilung, aus gleichen Noten bestehend, leicht. Aber der Vortrag wäre sehr matt, wenn man die Verzierung eintönig und streng im Takte spielen wollte. Ihre Ausführung muss sein wie folgt:

[Notenbeispiel 33-2]

Denn da die Sanftheit dieser Verzierung kein Staccato zulässt, so kann man hier nur von einem leisen cresc: und dimin:, so wie in den letzten 6 Noten von einem sehr geringen ritardiren Gebrauch machen, wobei der Bass genau nachfolgen muss.

Bei No. 2 ist dieselbe Verzierung gegen das Ende etwas verlängert.

Die letzten 9 Noten bedürfen daher schon eines vermehrten Ausdrucks.

[Notenbeispiel 33-3]

<34> Das cresc: so wie das rallent: muss weit merkbarer hervortreten, da die obern mit > bezeichneten Noten schon einen bedeutenden Nachdruck erfordern, welcher im übereilten Zeitmasse unangenehm wäre. Erst die 3 letzten Noten sind dimin:

Bei No. 3 ist die Vermehrung der Noten noch bedeutender; und da diese an sich schon den Bass zum ritardiren nöthigt, so darf die ganze Verzierung ja nicht gedehnt, oder mit besonderem Nachdruck ausgeführt werden, sondern leicht, zart, und nur in den letzten 3 Noten etwas merkbar zurückhaltend, nämlich:

[Notenbeispiel 34-1]

Der Anschlag bei diesen längeren und geschwinden Verzierungen ist jenes Mittelding zwischen Legato und Staccato, wo die Finger, ohne die geringste Bewegung der Hand, die Tasten leicht und zart abrupfen, obwohl das Ganze noch immer dem Legato nahe kommen muss.

Dieselbe Vortragsart gilt bei No. 4; nur dass die noch grössere Notenzahl den Bass zu noch langsamerem ritardiren nöthigt, um die Verzierung zwar geschwind, aber deutlich und delicat, so wie in den letzten 8 Noten auch ein wenig smorzando hervorzubringen.

Der Bass muss in den letzten 2 Fällen so leicht und sanft accompagniren, dass er die Wirkung der rechten Hand auf keine Weise stört, und da sein rallentiren nicht willkührlich ungleich sein darf, so kommen seine begleitenden Noten ungezwungen gerade mit jenen anzuschlagen, welche im Laufe der Verzierung eben mit ihnen zusammentreffen.

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