Kinkel, Briefe

Kinkel: Acht Briefe über Klavierunterricht

2. Brief [Gedanken über den Beruf des Klavierlehrers. Grundlegendes zur Anschlagstechnik]

<10> Es ist allerdings eine starke Forderung, daß ein Clavierlehrer seinen Zögling von der niedrigsten Stufe bis zum Gipfel leite, während fast in allem übrigen Lernen für jede abgegrenzte Classe ein besonderer Lehrer da ist, der dem folgenden in die Hände arbeitet. Hier gilt gewiß mehr als irgendwo der Satz, daß der trefflichste Professor oft der schlechteste Schulmeister sei.

Eigentlich besitzen wir bisher fast gar keine passenden Lehrer für die vorbereitenden Stufen. Wir haben alle Gradationen von geschickten und ungeschickten, <11> pflichttreuen und gewissenlosen Lehrern, aber kaum einen, der sich damit bescheiden möchte, seine Schüler bis zu einem bestimmten Grad von Fertigkeit emporzubringen und ihn dann einem höher gebildeten Meister zu überlassen.

Ein Componist, der sich seinen dichterischen Träumen nur eine Weile hingegeben hat, kann sich unmöglich auf den Stundenschlag in die Seele eines Anfängers versetzen. Verfolgt er in Gedanken eine recht glückliche Melodie, und ehe er sie fertig aufschreiben konnte, tritt der Zögling mit dem Etüdenheft in die Stube, so ist seine erste Empfindung gegen ihn gewiß die, daß er ihn tüchtig durchprügeln und die Treppe hinunter werfen möchte. Der Schaffende hat einen natürlichen Hang gegen den ihn störenden Stümper, und alles Lehren ohne Liebe ist wirkungslos.

Es ist gar keine besondere musikalische Begabung dazu nöthig, kleine Kinder bei ihren Stückchen zu <12> beaufsichtigen, ob sie die Finger richtig setzen; nur Geduld und Gewissenhaftigkeit. So manche Personen, die den Beruf eines Clavierlehrers wie ein anderes Gewerbe bloß zu ihrem Unterhalt ergreifen, ohne dabei das Bedürfniß eines tieferen Eindringens in den Geist der Musik zu empfinden, könnten überaus nützliche Mitglieder in der Kunstgenossenschaft werden, wenn sie innerhalb bestimmter Schranken genau ihre Pflicht erfüllten. Anstatt ihren unreifen Zöglingen möglichst früh den Beethoven preiszugeben, dürften sie die ersten Jahre bloß zur Bildung des Gehörs, des Taktgefühls und der Finger anwenden. Aus ihrer Elementarschule träte dann ein in seiner Art fertiger Schüler, den ein höher gebildeter Lehrer in eine geistigere Sphäre lenkte, ohne stets durch das materielle Hinderniß steifer Finger aufgehalten zu sein. Dieß, sich mit seiner geringen Aufgabe zu bescheiden, ist die Pflicht des Lehrers der ersten Stufe, und er <13> ist nur insofern ein guter Lehrer, als er diese nicht überschreitet.

Soll ein Kunsttempel aufgebaut werden, so dürfen nicht Baumeister und Bildhauer selbst ihre Steine erst zusammenschleppen und behauen: dazu sind Handlanger besser.

Indessen, da es einstweilen nicht anders ist, und hochbegabte musikalische Naturen durch die Umstände nicht selten zu der untergeordnetsten Thätigkeit im Reich der Kunst veranlaßt werden, so wollen wir zu unserm Thema zurückkehren.

Es ist ein vielverbreitetes Mißverständniß, die Geschicklichkeit der Finger bloß nach dem Grade ihrer Schnelligkeit zu messen, während darauf viel weniger ankommt, als auf die Fähigkeit des Fingers: jedem Grad von Stärke oder Schwäche des Drucks auf ein Haar zu entsprechen.

Der vierte Finger ist von Natur aus der unlenksamste. <14> Trifft es sich nun, daß ihm eine besonders ausdrucksvolle Note zugewiesen wird, so geht diese wirkungslos verloren, wenn er nicht beizeiten so erzogen ward, daß er den andern an Kraft gleichsteht. Das allbekannte Uebungsstückchen, worin der vierte Finger allein kräftig Achtel anschlägt, während die übrigen unbewegt Taktnoten festhalten müssen, ist dem Spieler so nothwendig wie dem Sänger das Ueben eines schwachen Registertons. Man thut dergleichen Aufgaben nicht ein für allemal ab, sondern sie begleiten einen durch die ganze Zeit des Lernens. Wenn man auf diese Weise täglich nur eine Minute lang den vierten Finger übt, so bringt man ihn bald mit den andern ins Gleiche.

Der kleine Finger steht seiner Kürze wegen gewöhnlich noch über der Claviatur, wenn die andern hinlänglich gekrümmt sind, um die Tasten nieder zu drücken. In der rechten hand spürt man weniger davon, aber in der linken erwächst ein großer Uebelstand <15> aus dieser Gewohnheit. Dem kleinen Finger sind die Noten des Grundbasses zugewiesen; er soll das Fundament vertreten, auf dem die ganze Harmonie ruht, aber selten erfüllt er seine Aufgabe. Bleibt seine Note nicht völlig aus, so ist sie doch schwächer als die Mittelstimmen, während der Baß eher eine kräftigere Färbung haben müßte.

Die wenigsten Spieler sind sich dieses Mangels selber bewußt. Sie haben den Willen, ihren Baßton anzuschlagen; sie spüren auch wohl, daß der fünfte Finger die Taste berührt, aber sie beachten nicht, daß er sie nur zur Hälfte niederdrückte, ohne daß der Ton deutlich ansprach. Verfolgt der Spieler sein Stück auf den Noten, so ergänzt ihm die Einbildungskraft den fehlenden Baß dergestalt, daß er ihn gar nicht vermißt. Damen sind besonders diesem Hauptfehler unterworfen, weil sie in Gedanken die Melodie zu verfolgen pflegen und keine Empfindung von der <16> größern Wichtigkeit des Fundamentalbasses haben. Wie manche Spielerin habe ich beobachtet, welche mit bedeutender Fertigkeit ein langes Stück spielte, und linienweise die Baßnoten ausließ, ohne es zu bemerken.

Achte darauf, daß Deine Schüler (besonders bei vollgriffigen Akkorden) die linke Hand immer etwas seitwärts nach dem Baß zu halten, so daß der Druck verstärkt in seiner ganzen Schwere nach den beiden schwächern Finger hingeleitet wird. Gegen das Ueberlegen eines Fingers auf einen andern, welches eine häufig vorkommende Unart ist, giebt es ein ganz einfaches Mittel. man steckt ein Ringelchen mit einem spitz vorstehenden Stein, oder bindet nur einen Faden mit einem rauhen Knoten an die betreffende Stelle, so gewöhnt sich der Nebenfinger bald, auf seinem gehörigen Platz zu bleiben.

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