Koch: Musikalisches Lexikon

Absatz

<13> Dieses Wort bezeichnet im weitläuftigen Sinne jeden Ruhepunkt der Melodie, wodurch sich die Theile und Glieder derselben von einander unterscheiden. Im engern Sinne hingegen, und als eigentliches Kunstwort betrachtet, verstehet man darunter insbesondere ein solches Glied einer Periode, welches einen vollständigen Sinn ausdrückt, und welches kleinere Glieder, die man Einschnitte nennet, in sich fassen kann.1

Bey dem Periodenbaue muß auf drey verschiedene Eigenschaften der Absätze Rücksicht genommen werden, nemlich

  1. auf ihre Endigung, oder auf die Formel und auf die harmonische Grundlage, mit welcher sie <14> schliessen, das ist, auf ihre interpunktische Beschaffenheit;
  2. auf den Umfang ihrer Takte, und auf die Aehnlichkeit ihres Metrums, das heißt, auf ihre rhythmische Beschaffenheit, und
  3. auf den Umfang ihres Inhaltes oder auf den Grad ihrer Vollständigkeit, den wir ihre logische Beschaffenheit nennen wollen.
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[Endigungsformeln]

In Ansehung der Interpunktion oder der Endigungsformel eines melodischen Gliedes, welches einen vollständigen Sinn ausdrückt, äussert sich die Verschiedenheit, daß die Endigungsformel desselben entweder so beschaffen ist, daß sie den höchsten Grad der Ruhe bewirkt, so daß man ordentlicher Weise keinen nachfolgenden <15> Satz der Periode mehr erwartet, oder sie bewirkt einen mindern Grad der Ruhe, und läßt noch einen oder mehrere Sätze erwarten. Nur in dem letzten Falle pflegt man ein solches Glied einen Absatz zu nennen; im ersten Falle wird es wegen der vollkommen beruhigenden Eigenschaft seiner Endigungsformel ein Schlußsatz, die Endigungsformel selbst aber ein Tonschluß oder <|> eine Cadenz genannt, wovon in einem besondern Artikel gehandelt wird, [FN: Siehe Tonschluß] wobey aber hier noch beyläufig zu bemerken übrig bleibt, daß ein Schlußsatz durch die Abänderung seiner Schlußform in einen Absatz, wie z.B. bey Fig. 1, und der Absatz durch die Umänderung seiner Endigungsformel in einen Schlußsatz verwandelt werden kann, wie bey Fig. 2.

Notenbeispiel Sp. 15/16, Nr. 1

Die Endigungsformel eines Absatzes, und der Grad der Ruhe den sie bewirkt, bestehet darinne, daß die Melodie eines Satzes2 sich dergestalt biegt, daß sie ihre Vollständigkeit mit der Quinte, Terz <|> oder Oktave des harmonischen Dreyklanges auf der Tonica oder Dominante derjenigen Tonart erreicht, in welcher sich die Modulation befindet, oder nach welcher sie sich im Satze hinwendet, wie bey Fig. 3, 4, und 5.

Notenbeispiel Sp. 15/16, Nr. 2
Notenbeispiel Sp. 17/18, Nr. 1

<17> Ehe wir jedoch in der Betrachtung dieser Absätze weiter gehen, macht die Kunstsprache eine Digression nothwendig. Es ist sehr begreiflich, daß jeder melodische Theil eine gewisse Anzahl von Takten erfordert, in welche sein vollständiger Sinn eingekleidet wird; so erfolgt z.B. in den vorhergehenden Sätzen bey Fig. 3, 4 und 5 die Vollständigkeit derselben auf dem guten Takttheile des vierten Taktes. Man nennet sie daher auch in Rücksicht auf diese Taktzahl Rhythmen von vier Takten, oder Vierer, um dadurch anzuzeigen, daß sie ihre Vollständigkeit in dem vierten Takte erreichen. Weil aber diese rhythmischen Endnoten der Absätze im galanten <|> Style oft verzieret werden, und dadurch einen Ueberhang bekommen, welcher verursacht, daß die melodischen Endnoten erst später im Takte erfolgen, als das eigentliche rhythmische Ende des Satzes, so pflegt man das rhythmische Ende mit dem Ausdrucke Cäsur zu bezeichnen, um es von dem melodischen Ende, oder von der letzten Note einer solchen verzierten Endigungsformel zu unterscheiden. [FN: Siehe Cäsur] In dem vorhergehenden Satze bey Fig. 3 fällt z.B. das rhythmische Ende oder die Cäsur, und das melodische Ende desselben auf eine und ebendieselbe Note; wird aber die Endnote dieses Satzes auf folgende Art verziert,

Notenbeispiel Sp. 17/18, Nr. 2

so bleibt dennoch das erste Viertel des vierten Taktes das rhythmische Ende oder die Cäsur, obgleich die melodische Endnote erst in der folgenden schlechten Zeit des Taktes erfolgt. -

Wenn nun der Cäsurton eines Absatzes ein Ton aus dem Dreyklange auf der Tonika ist, wie oben bey <|> Fig. 3 und 5, so pflegen ihn viele Theoristen einen Grundabsatz zu nennen; wird hingegen die Cäsur mit einem Tone aus dem Dreyklange auf der Dominante gemacht, so nennen sie ihn einen Quintabsatz, oder auch den Aenderungsabsatz.3 Im Falle ein solcher Quintabsatz mit einem, oder mit <19> mehrern vorhergehenden Sätzen in genauem Zusammenhange stehet, wie z.B. wenn demselben in der ersten Periode eines Tonstückes der Grundabsatz vorhergehet, wird er am gewöhnlichsten die Halbcadenz genannt, weil er die Eigenschaft besitzt, einen höhern Grad der Ruhe zu bewirken, als der Grundabsatz.

Die Verzierungen der Cäsurnoten, deren schon oben gedacht worden ist, <|> geschehen auf verschiedene Arten, und zwar

  1. vermittelst des Nachschlages anderer Töne, die in dem dabey zum Grunde liegenden Dreyklange enthalten sind; so wird z.B. der einfache Cäsurton des Satzes bey Fig. 1, auf die bey Fig. 2 befindlichen verschiedenen Arten, durch nachschlagende Noten verziert:
Notenbeispiel Sp. 19/20, Nr. 1

Dieser Ueberhang oder weibliche Ausgang des Satzes wird überdies <|> noch sehr oft mit durchgehenden und Wechselnoten vermischt; z.B.

Notenbeispiel Sp. 19/20, Nr. 2

oder wenn die nachfolgenden Noten aufsteigend gebraucht werden, <|> und der Satz eine fragende Form erhalten soll:

Notenbeispiel Sp. 19/20, Nr. 3

In diesem Satze wurde die Cäsur mit der Terz des zum Grunde liegenden <|> Dreyklanges gemacht; enthält nun die Cäsurnote die Quinte <21> oder Oktave des Dreyklanges, so kommen noch mehrere dergleichen Figuren durch den Nachschlag der harmonischen Noten, und durch ihre Ausfüllung mit durchgehenden Noten zum Vorscheine, mit denen es die nemliche Bewandniß hat, die aber alle mit Beyspielen zu erläutern, der Raum nicht erlaubt.

Die Verzierung der Cäsurnoten geschieht

  1. vermittelst eines Vorhaltes oder <|> Vorschlages, durch welchen, zwar nicht die Cäsur selbst, wohl aber die Note, womit sie eigentlich gemacht werden sollte, von ihrer Stelle in den Nachschlag verdrängt wird, und statt derselben ein Ton in den Anschlag kömmt, der nicht zu der Harmonie des zum Grunde liegenden Dreyklanges gehört, der aber die Folge der Cäsurnote nothwendig macht; z.B.
Notenbeispiel Sp. 21/22, Nr. 1

Dieser Vorschlag wird oft als eine ordentliche Note ausgeschrieben, wie bey Fig. 1, und alsdenn pflegt man zwischen <|> diese Wechselnote, und zwischen die aufgehaltene Cäsurnote auf verschiedene Arten Nebennoten einzumischen, wie z.B. bey Fig. 2

Notenbeispiel Sp. 21/22, Nr. 2

In allen diesen Fällen endigte sich der Absatz noch in dem guten Theile des Taktes; allein man läßt es dabey noch nicht bewenden, sondern hält sehr oft diesen Vorschlag oder diese Wechselnote, welche die Stelle <|> der Cäsurnote einnimmt, den ganzen guten Takttheil hindurch auf, und läßt die eigentliche Cäsurnote erst in dem schlechten Takttheile nachfolgen; z.B. bey a)

Notenbeispiel Sp. 21/22, Nr. 3

oder man zergliedert diese aufhaltende Note auf verschiedene Arten in <|> Noten von geringerem Werthe, wie bey b, c, d, e und f, u. dergl.

Notenbeispiel Sp. 21/22, Nr. 4

Zuweilen geschieht es auch, daß diejenige Note, welche den Vorhalt der Cäsurnote ausmacht, und die eigentlich als Wechselnote nicht in den bey der Cäsur zum Grunde liegenden <|> Dreyklang gehört, zu mehrerer Veränderung der Harmonie mit einem eigenen Grundtone begleitet wird, z.E. <23>

Notenbeispiel Sp. 23/24

In Rücksicht auf den Periodenaufbau geben die Tonlehrer gemeiniglich die Regel, daß zwey Grund- oder zwey Quintabsätze nicht unmittelbar nach einander in einer und eben derselben Tonart, ohne Beleidigung des Gefühls, gesetzt werden können. In Ansehung der unmittelbaren Folge zweyer Grundabsätze, deren melodischer Inhalt verschieden ist, das heißt, bey welchen der zweyte keine bloße Wiederholung des ersten ist, leidet die Regel selten eine Ausnahme, wohl aber in Ansehung der unmittelbaren Folge zweyer Quintabsätze, besonders in weit ausgeführten Perioden. Es lassen sich aber keine bestimmten Merkmale angeben, in welchen Fällen zwey unmittelbar auf einander folgende Quintabsätze gebilligt werden können, oder nicht; nur Geschmack und Kunstgefühl können hierüber entscheiden. Indessen scheint es doch damit seine Richtigkeit zu haben, daß zwey solche nach einander folgende Quintabsätze entweder in Ansehung ihrer Cäsurnoten, oder doch wenigstens in Ansehung der Verzierung derselben verschieden seyn müssen, daß ist, wenn der erste z.B. seine Cäsur mit der Terz des dabey zum Grunde liegenden Dreyklanges macht, so muß der zweyte die seinige mit der Quinte oder Oktave dieses Dreyklanges machen, oder die Art der Verzierung muß bey gleichen Cäsurnoten von ganz verschiedener Form seyn. Weil Beyspiele dieser Art zu viel Raum erfordern, sehe ich mich genöthigt, <24> dabey auf diejenigen Lehrbücher zu verweisen, die sich über melodische Gegenstände dieser Art verbreiten.4

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[Taktumfang]

Das zweyte Hauptstück, auf welches bey den Absätzen in dem Periodenbaue Rücksicht genommen werden muß, betrifft ihre rhythmische Beschaffenheit, das ist, die Anzahl der Takte, die zu ihrer Darstellung nöthig sind. Hierzu gehört aber auch noch insbesondere eine gewisse gleichartige Verbindung der Glieder dieser Takte, die man durch das Kunstwort Metrum oder Taktgewicht, bezeichnet, und wovon in einem besondern Artikel gehandelt werden soll.

Die Glieder einer Periode erfordern entweder eine gleiche oder eine ungleiche Zahl von Takten zur Darstellung ihres Inhaltes, und von der Anzahl der einfachen Takte, die dazu nöthig sind,5 werden sie Dreyer, Vierer, Fünfer, u.s.w. genannt. Die gewöhnlichsten derselben, die zugleich für unser Gefühl die angenehmsten sind, bestehen aus einer geraden Taktzahl, und zwar (wenn ihr Inhalt nicht durch Nebenideen gleichsam erweitert ist,) aus vier Takten, wie die vorhergehenden in diesem Artikel eingerückten Beyspiele; und es scheint, als liege immer, im Falle ihre Taktzahl ungerade ist, entweder eine Wiederholung eines Taktes, oder eine Ausdehnung zweyer Takttheile zu zwey vollen Takten, zum Grunde.

Die Absätze von vier Takten fassen entweder einen oder mehrere kleinere melodische Ruhepunkte oder Einschnitte <25> in sich, oder nicht. Von dieser letzten Beschaffenheit sind die zu Anfange dieses Artikels eingerückten Beyspiele. Es kömmt aber auch sehr oft der Fall vor, daß ein Vierer <|> einen oder mehrere Einschnitte enthält, und dann zerfällt gewöhnlich der Satz entweder durch den Einschnitt in zwey gleiche Theile, z.B.

Notenbeispiel Sp. 25/26, Nr. 1

oder es enthält eine Hälfte desselben noch mehrere kleine Einschnitte, wie <|> z.B. in folgenden beyden Sätzen:

Notenbeispiel Sp. 25/26, Nr. 2

Weit ungewöhnlicher hingegen ist der Fall, in welchem ein Vierer durch den Einschnitt in zwey ungleiche <|> Hälften getheilt wird, wie bey Fig. 1 und 2 ; [FN: Verschiedene Tonlehrer erklären den Satz bey Fig. 1 für einen Dreyer, dessen ungerade Taktzahl durch den letzten Takt, den sie einen Einer nennen, wie man zu sagen pflegt, wieder gut gemacht wird. Alsdenn müßte man aber auch in dem Satze bey Fig. 2. die ersten beyden Noten als einen Einer betrachten, der durch den darauf folgenden Dreyer gut gemacht würde. Am schicklichsten möchte sich wohl dieser bey Fig. 2. befindliche Satz, ohne auf seine Taktzahl und auf die Ungleichheit seiner Glieder Rücksicht zu nehmen, als ein solcher erklären lassen, der einen vollständigen Sinn bezeichnet, und der mit einer Art von Ausrufung anfängt, so wie ohngefähr der Redesatz: Erhabner! Dir Lob zu singen ist Pflicht. Allein wir werden in der Folge dieses Artikels sehen, aus welchem Grunde wir Erklärungen dieser Art nicht so, wie es zu wünschen wär, benutzen können.]

Notenbeispiel Sp. 25/26, Nr. 3

<27> Die Absätze von fünf Takten oder die sogenannten Fünfer entstehen gemeiniglich durch die Ausdehnung eines Vierers; diese Ausdehnung kann auf verschiedene Arten geschehen: <|>

  1. Durch die unmittelbare Wiederholung eines Taktes. Wenn man z.B. im folgenden Satze
Notenbeispiel Sp. 27/28, Nr. 1

den zweyten Takte wiederholt, und dabey die beyden Oberstimmen unter einander verwechselt, so wird die <|> Wiederholung unmerklich, und der Satz scheint ursprünglich aus fünf Takten zu bestehen, als

Notenbeispiel Sp. 27/28, Nr. 2

Die Verwandlung eines Vierers in einen Fünfer kann geschehen,

  1. wenn die Notenfigur eines Taktes, gleichsam als eine Bekräftigung seines Inhaltes, nochmals <|> auf andere Stufen der Tonleiter, und auf eine andere harmonische Grundlage versetzt wird; auf diese Art wird der Vierer bey Fig. 1 zu einem Fünfer, wie bey Fig. 2.
Notenbeispiel Sp. 27/28, Nr. 3

Am gewöhnlichsten entstehen die Fünfer

  1. durch die Ausdehnung zweyer Takttheile zu zwey vollen Takten. Wenn z.B. die ersten beyden Viertel des Taktes bey Fig. 3, um ihnen <|> gleichsam mehr Nachdruck zu geben, so wie bey Fig. 4 ausgedehnt werden, so giebt uns der Satz ein Beyspiel eines Vierers, der zu einem Fünfer ausgedehnet worden ist.
Notenbeispiel Sp. 27/28, Nr. 4
Notenbeispiel Sp. 29/30, Nr. 1

<29> Wenn der Vierer, der auf diese Art ausgedehnet werden soll, aus <|> zwey gleichen Gliedern bestehet, z.E.

Notenbeispiel Sp. 29/30, Nr. 2

so bekömmt entweder nur ein Glied die Ausdehnung, und zwar am gewöhnlichsten <|> das erste; z.B.

Notenbeispiel Sp. 29/30, Nr. 3

oder es werden beyde Glieder ausgedehnt, als:

Notenbeispiel Sp. 29/30, Nr. 4

In diesen beyden Fällen pflegen viele Tonlehrer die beyden Glieder des Satzes als besondere für sich bestehende Absätze zu betrachten, und in dem ersten Falle zu sagen, ein solcher Dreyer könne deswegen in einer Periode unter geradzähligen Rhythmen Statt finden, weil seine ungerade Taktzahl durch den darauf folgenden Zweyer wieder verbessert werde; im zweyten Falle aber lehren sie, daß zwey nach einander folgende Dreyer deswegen in einer Periode gebraucht werden können, weil sie beyde zusammen einen geradzähligen Rhythmus ausmachen. Aus dieser Erklärungsart scheint die Regel entstanden zu seyn, daß ein in der Periode gebrauchter Dreyer entweder durch einen unmittelbar darauf folgenden andern Dreyer, oder durch einen Zweyer gut gemacht werden müsse.

Gleiche Bewandniß, wie mit den Fünfern, hat es auch mit den Sätzen von größerer ungerader Taktzahl, die aber selten gebraucht werden. Die Beschaffenheit der geradzähligen Sätze von mehr als vier Takten werden wir kennen lernen, wenn <30> wir die Sätze in logischer Rücksicht betrachten.

Bey dem Periodenbaue bedient man sich am gewöhnlichsten der Vierer, die aber, wie wir sogleich in der Folge sehen werden, oft theils erweitert, theils auch zusammen geschoben werden. Ihre Verbindung in Ansehung ihres Umfanges wird von keiner besondern Regel eingeschränkt; dasjenige, was allenfalls noch in Rücksicht auf ihre rhythmische Beschaffenheit vermerkt werden könnte, ist in dem Artikel Metrum enthalten. Bey dem Gebrauche der melodischen Glieder von ungerader Taktzahl kommen zwar oft Fälle vor, bey welchen sich unser Gefühl wider die Vermischung derselben mit geradzähligen Gliedern sträubt; man hat aber noch keine bestimmte Regel ausfündig machen können, in welchen Fällen diese Vermischung dem Gefühle entgegen sey, oder nicht, und daher gehört die Entscheidung des Schicklichen oder Unschicklichen bey der Vermischung der ungeradzähligen Rhythmen mit den geradzähligen noch vor den Richterstuhl des Kunstgefühls. Es kömmt dabey <31> wahrscheinlich mehr auf die nähere oder entferntere innere Beziehung der melodischen Glieder, als auf ihren materiellen Umfang an.

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[Umfang des Inhalts]

Betrachten wir nun auch 3. die Absätze in Ansehung ihrer logischen Beschaffenheit, so enthalten sie entweder nur so viel, als zur Darstellung eines vollständigen Sinnes unumgänglich nöthig ist, und in diesem Falle wollen wir sie, in Ermangelung eines zu ihrer Bezeichnung angenommenen Kunstwortes einfache Sätze nennen; oder es enthält ein solcher Absatz eine nähere Bestimmung eines Theils des in demselben enthaltenen Sinnes, und einen solchen Satz wollen wir mit dem Ausdruck erweiterter Satz bezeichnen; oder es sind zwey an sich selbst vollständige Sätze dergestalt zusammen geschoben, daß sie beyde nur in der äußern Gestalt eines einzigen Satzes erscheinen, und dann heißt ein solcher Satz ein zusammengeschobener Satz.

Nach Anleitung dessen, was oben von den Einschnitten der Vierer, und von der Ausdehnung dieser Einschnitte zu Gliedern von drey Takten, erinnert worden ist, kann man, wie mir dünkt, ohne einen Fehler <32> in Hinsicht auf den Periodenbau zu veranlassen, annehmen, daß zur Darstellung eines vollständigen Sinnes in der Melodie vier einfache Takte nöthig seyen, oder mit andern Worten, daß ein Vierer nur einen einfachen Satz enthalten könne. Ich habe schon bey einer andern Gelegenheit bemerkt, [FN: Anleitung zur Composition, S. 349-356] daß die Theorie des Periodenbaues manchen Vortheil gewinnen würde, wenn man in jedem melodischen Satze die Haupt-Idee desselben und den ihr beygelegten Charakter, oder nach der Sprache der Logik, Subjekt und Prädikat, eben so bestimmt unterscheiden könnte, wie in dem Sprachsatze; denn wenn man z.B. in dem Satze bey Fig. 1 den Inhalt der zwey ersten Takte als das Subjekt, den Inhalt des dritten und vierten Taktes aber als das Prädikat betrachtet, so ist alsdenn klar, daß der Satz bey Fig. 2 durch nähere Bestimmung des Prädikates erweitert ist, und daß bey Fig. 3. mit dem Subjekte zwey verschiedene Prädikate verbunden sind. Eben so fühlbar ist es alsdenn, daß in dem Satze bey Fig. 4. das Subjekt bey Fig. 5. aber sowohl Subjekt als Prädikat näher bestimmt sind.

Notenbeispiel Sp. 31/32
Notenbeispiel Sp. 33/34, Nr. 1

<33> In vielen Fällen würde aber diese Art, die Erweiterung der Sätze zu erklären, allzu undeutlich seyn. Wir gehen daher lieber den gebahntern Weg, und betrachten die mechanischen Hilfsmittel, durch welche ein Satz auf verschiedene Arten erweitert werden kann. Das erste derselben ist die Wiederholung. Ein Glied eines einfachen Satzes kann entweder <34>

  1. auf ebendenselben Stufen, und zwar ohne, oder mit Veränderung der melodischen Nebennoten wiederholt werden; oder die Wiederholung geschieht
  2. auf verschiedenen Stufen. In diesem Falle wird das Glied entweder auf andern Stufen in ebenderselben Tonart wiederholt, und eine Versetzung genannt; z.B. wenn die ersten beyden Takte dieses Satzes
Notenbeispiel Sp. 33/34, Nr. 2

auf folgende Art wiederholt werden:

Notenbeispiel Sp. 33/34, Nr. 3

<35> oder das zu wiederholende Glied wird zugleich in eine andere Tonart versetzt, und in diesem Falle nennet man <|> diese Wiederholung eine Transposition; z.E.

Notenbeispiel Sp. 35/36, Nr. 1

Wird aber das zu wiederholende Glied mehr als zweymal stufenweise <|> versetzt, so nennet man den Satz Progression; z.B.

Notenbeispiel Sp. 35/36, Nr. 2
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[Umfang des Inhalts - Fortsetzung]

Das zweyte Hülfsmittel, durch welches ein enger Satz erweitert, und dessen Inhalt genauer bestimmt werden kann, ist dieses, daß man dem Satze eine Erklärung, oder einen Anhang beyfügt, welcher mehr Licht über ihn verbreitet. Dieser Anhang ist entweder ein Theil des Satzes selbst, durch dessen Wiederholung <|> der Inhalt des Satzes nachdrücklicher gemacht wird, z.B. in den vorhergehenden Exempeln bey Fig. 2 und 5; oder es ist ein noch nicht im Satze vorhandenes Glied, welches aber die Eigenschaft besitzt, den Inhalt des Satzes genauer zu bestimmen, z.E.

Notenbeispiel Sp. 35/36, Nr. 3

Durch einen solchen Anhang bekömmt der erweiterte Satz zwey Absatzformeln auf einem und eben demselben Grundtone, die aber nothwendig entweder in Ansehung des Tones, welcher die Cäsurnote ausmacht, oder wenigstens bey einer und eben derselben <|> Cäsurnote in Ansehung ihrer Verzierung verschieden seyn müssen. Wollte man diese Maxime vernachläßigen und den Anhang dieses Satzes so bilden, daß seine Endigungsformel der Formel des einfachen Satzes gleich ist, z.E.

Notenbeispiel Sp. 35/36, Nr. 4

so fühlte man das Unangenehme der beyden sich gleichen Endigungsformeln <|> sehr deutlich. Einen Absatz von gleicher Formel auf der Grundlage <37> des Dreyklanges der Dominante hingegen kann ein solcher Anhang ohne die geringste Beleidigung des Gefühls <|> machen, z.B. wenn unser Anhang folgendergestalt geformt wird.

Notenbeispiel Sp. 37/38, Nr. 1

Das dritte Hülfsmittel einen einfachen Satz zu erweitern, und seinen Inhalt bestimmter darzustellen, <|> ist die Fortsetzung einer in demselben vorhandenen metrischen Formel; z.B.

Notenbeispiel Sp. 37/38, Nr. 2

Wenn zwey oder mehrere einfache Sätze dergestalt mit einander verbunden werden, daß sie in der äußerlichen Gestalt eines einzigen Satzes erscheinen, und in dem Periodenbaue nur als ein Satz betrachtet werden, so nennet man einen solchen Satz einen zusammengeschobenen Satz. Dieses Zusammenschieben der Sätze kann durch verschiedene Mittel bewirkt werden; das erste und gebräuchlichste derselben ist die sogenannte Takterstickung. Man verstehet darunter dasjenige Verfahren, <|> vermittelst dessen zwey vollständige Sätze, bey welchen der Cäsurton des ersten, und der Anfangston des zweyten Satzes eine und ebendieselbe Harmonie voraussetzen, so verbunden werden, daß der Takt, welcher die Cäsur des ersten Satzes enthält, ausgelassen, und der Anfangston des zweyten Satzes zugleich als der ausgelassene Cäsurton des vorgehenden Satzes betrachtet wird. Ein Beyspiel wird dieses deutlicher machen. In den folgenden beyden Absätzen

Notenbeispiel Sp. 37/38, Nr. 3

<39> schließt der erste Absatz auf der harmonischen Grundlage des Dreyklanges g h d, und der zweyte fängt auf eben dieser Harmonie an; wird nun unter diesen Umständen der letzte Takt des ersten Satzes, oder die Cäsurnote desselben, ausgelassen, und sogleich <|> der erste Takt des folgenden Satzes ergriffen, so vertritt gleichsam die erste Note des zweyten Satzes zugleich die Stelle der Cäsurnote des ersten, und beyde Sätze erscheinen nun in der Gestalt eines einzigen Satzes; z.B.

Notenbeispiel Sp. 39/40, Nr. 1

Ein solcher zusammengeschobener Satz, der nur sieben Takte enthält, wird in der Periode nicht als ein melodisches Glied von ungleicher Taktzahl, sondern als ein Satz von acht Takten betrachtet, und derjenige Takt in welchem die Cäsurnote des ersten Satzes ausgelassen worden ist, wird, nach Anleitung der unter die Noten unsers Beyspiels gesetzten Zahlen, doppelt gezählt, nemlich einmal als der Schlußtakt des ersten, und das zweytemal als der Anfangstakt des zweyten Satzes. Uebrigens ist diese Art der Zusammenschiebung zweyer Sätze oft alsdenn sehr vortheilhaft zu gebrauchen, wenn man der unmittelbaren Folge zweyer gleichartigen Absätze in einer und eben derselben Tonart entgehen will, von welcher oben gehandelt worden ist.

<|> Das Zusammenschieben zweyer einfachen Sätze kann ferner dadurch hervorgebracht werden, daß man der Endigungsformel des ersten Absatzes die Eigenschaft benimmt, den Satz als vollständig empfinden zu lassen; denn durch dieses Verfahren wird der nachfolgende Satz zur Vollständigkeit des ersten erfordert, und die beyden Sätze erscheinen alsdenn in der Gestalt eines einzigen vollständigen Satzes von verschiedenen Gliedern. Dieser Prozeß ist aber nur unter solchen Sätzen anwendbar, von welchen der erste aus zwey Gliedern bestehet, die eine Wiederholung auf einer verschiedenen harmonischen Grundlage enthalten. Von folgenden beyden Vierern erkennt unser Gefühl jeden insbesondere für vollständig,

Notenbeispiel Sp. 39/40, Nr. 2

Macht man aber in dem ersten Vierer die Endigungsformel eines zweyten Gliedes, der Endigungsformel <|> des ersten Gliedes ähnlich, wie in dem nachfolgenden Beyspiele, so verliert der Satz das Gefühl der <41> Vollständigkeit,6 und macht zur Darstellung eines vollständigen Sinnes seine Vereinigung mit dem folgenden <|> Satzes unumgänglich nothwendig; als

Notenbeispiel Sp. 41/42, Nr. 1

Zu den Mitteln, zwey Sätze zusammen zu schieben, kann gewissermaßen auch dasjenige Aneinanderketten derselben gerechnet werden, <|> welches entstehet, wenn der Raum von der Cäsurnote des ersten Satzes bis zur Anfangsnote des zweyten mit Noten ausgefüllet wird; z.B.

Notenbeispiel Sp. 41/42, Nr. 2

Die Schriften, die sich über die interpunktische und rhythmische Beschaffenheit der Absätze, und über ihre Verbindungsarten verbreiten, sind schon oben in einer Anmerkung angezeigt worden.

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[Fußnoten]

Fußnote 1 (Sp. 13/14):

Ich behalte hier die ältere und gewöhnlichere Bedeutung der beyden Kunstwörter Absatz und Einschnitt bey, die durch Riepels, Marpurgs, und anderer Tonlehrer Schriften allgemein verbreitet worden ist. Es läßt sich nicht einsehen, warum nachher Kirnberger in seiner Kunst des reinen Satzes, und mit ihm Sulzer in seiner Theorie der schönen Künste ohne Ursache von dieser einmal angenommenen Bedeutung abgingen, und die größern melodischen Glieder Einschnitte, die kleinern aber Cäsuren nannten, und dadurch veranlaßten, daß das Wort Einschnitt einen zweydeutigen Sinn erhielt. Ueberdies ist der Ausdruck Cäsur, womit diese beyden Theoristen die kleinsten melodischen Glieder, anstatt des gewöhnlichen deutschen Wortes Einschnitt, bezeichnen, deswegen nicht wohl zur Bezeichnung dieser Glieder schicklich, weil damit schon ein anderer verwandter Begriff in der Kunstsprache verbunden worden war. Siehe Cäsur.

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Fußnote 2 (Sp. 15/16):

Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, daß in diesem Artikel unter dem Worte Melodie blos der Gesang der Hauptstimme verstanden werden muß.

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Fußnote 3 (Sp. 17/18):

Und zwar deswegen, weil sich theils in der ersten Periode eines Tonstückes nach diesem Absatze die Modulation nach einer andern Tonart hinwendet, theils auch, weil <19> alte Absätze, in welchen man in dem Verfolge des Tonstücks, in eine andere Tonart moduliert, Quintabsätze zu seyn pflegen, in welche die Modulation geführt wird. Das zur Bezeichnung solcher Sätze sehr schickliche Kunstwort Aenderungsabsatz ist jedoch nicht sehr gebräuchlich, sondern man bedient sich gewöhnlicher des Ausdruckes Halbcadenz.

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Fußnote 4 (Sp. 23/24):

Hierher gehören das zweyte und dritte Capitel von Riepels Anfangsgründen der musikalischen Setzkunst, und der zweyte und dritte Theil meiner Anleitung zur Composition.

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Fußnote 5 (Sp. 23/24):

Man ist gewohnt den rhythmischen Umfang der Sätze nach einfachen Taktarten zu bestimmen; daher wird bey den zusammengesetzten Taktarten jeder Takt doppelt gezählt, wenn man den Umfang eines Satzes oder die Taktzahl desselben anzeigen will.

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Fußnote 6 (Sp. 41/42):

Es scheint dem ersten Ansehen nach auffallend zu seyn, daß die Abänderung einer solchen fast unmerklichen Biegung der Endigungsformel dem Satze seine Vollständigkeit rauben könne; dieses Auffallende muß sich aber nothwendig verlieren, wenn man bedenkt, daß es bey zwey von einander abgesondert vorgetragenen Sprachsätzen ebenfalls nur einer Kleinigkeit bedarf, dem ersten derselben seine Vollständigkeit zu benehmen, und die Folge des zweyten zu seiner Vollständigkeit nothwendig zu machen, oder beyde Sätze zusammen zu schieben.

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