Koch: Musikalisches Lexikon

Lied.

<901> Mit diesem Namen bezeichnet man überhaupt jedes lyrische Gedicht von mehrern Strophen, welches zum Gesange bestimmt, und mit einer solchen Melodie verbunden ist, die bey jeder Strophe wiederholt wird, und die zugleich die Eigenschaft hat, daß sie von jedem Menschen, der gesunde und nicht ganz unbiegsame Gesangorgane besitzt, ohne Rücksicht auf künstliche Ausbildung derselben, vorgetragen werden kann. Hieraus folgt, daß die Melodie eines Liedes weder einen so weiten Umfang der Töne, <902> noch solche Singmanieren und Sylbendehnungen enthalten darf, wodurch sich bloß der künstliche und ausgebildete Gesang der Arie auszeichnet, sondern daß der Ausdruck der in dem Texte enthaltenen Empfindung durch einfache, aber desto treffendere Mittel erlangt werden muß.

Das Lied begreift verschiedene Arten und Gattungen unter sich, deren charakteristischer Unterschied theils durch den Inhalt, theils durch die Form bestimmt wird. Daher heißt es irgendwo:1

"Von dem Oratorium bis auf das Sonet, bis auf das Rondeau, hat jede (Art der lyrischen Poesie) ihren Unterscheidungscharakter, ob er gleich bei wenigen etwas mehr ist, als Gegenstand oder Form. Die Ode und das Lied sind die einzigen, die sich innerlich unterscheiden. Der Ausdruck zwar, das Colorit und der Ton sind anders modificirt in der Ode, anders in dem Liede, aber dieses Körperliche des Gedichtes ist, was es ist, durch den Geist. Auch liebt in der Form das Lied die Mannigfaltigkeit nicht, wie die Ode, aber die Ode kann die Gleichförmigkeit des Liedes annehmen. Das fühlende Herz dichtet ein Lied, oder eine Ode, je nachdem es gestimmt ist."

Ist das Lied geistlichen Inhaltes, so wird es gemeiniglich in diejenige höchst einfache Art der Melodie eingekleidet, die man den Choralgesang nennet. Dahin gehören

  1. die Hymne oder dasjenige Lied, dessen Inhalt insbesondere zum Lobe des Schöpfers bestimmt ist;
  2. die Litaney, welche eine Bitte um Abwendung gewisser sogenannter Landplagen, oder um die Unschadbarkeit gewisser Naturbegebenheiten zum Gegenstande hat, und
  3. dasjenige Lied, dessen Inhalt sich auf religiöse Handlungen und Gesinnungen beziehet, und mit keinem besondern Beynamen bezeichnet ist.

Ist hingegen das Lied nicht religiösen Inhaltes, so wird die Melodie <903> jederzeit in den sogenannten Figuralgesang eingekleidet, und behält den allgemeinen Namen eines Liedes, wenn sein Inhalt moralisch, scherzhaft, verliebt oder satyrisch ist; hat es aber Tapferkeit oder die Aufmunterung zum Widerstande gegen den Feind des Vaterlandes zum Gegenstande, so nennet man es insbesondere ein Kriegslied; oder bezieht sich der Inhalt auf lokale Verfassung des Staates, auf Sitten, auf das häusliche Leben, auf besondere Verrichtungen der verschiedenen Volksklassen u.s.w., so nennet man es ein Volkslied.

Weil die mehresten Menschen, bey welchen das Empfindungsvermögen noch nicht durch Alter, durch Uebersättigung aller Arten des Sinnengenusses, durch Beraubung ihrer Freyheit und durch andere Umstände abgestumpft ist, einen besondern Hang empfinden, die Gefühle, von denen sie durchdrungen sind, und die für ihr Herz viel Interesse haben, singend auszudrücken, und weil in der modernen Musik das Lied das einzige Kunstprodukt ist, wodurch jedes Individuum auch ohne besondere Kunstbildung sich durch Gesang vergnügen, oder sich im Drange seiner unangenehmen Empfindungen Erleichterung verschaffen kann, so bedarf es keines Beweises, welch ein wichtiges Kunstprodukt der vereinten Poesie und Musik das Lied sey. Bedenkt man überdies, welch einen Einfluß gute und zweckmäßige Lieder, die für die besondern Lagen und Bedürfnisse der verschiedenen Klassen der Bürger eines Staates eingerichtet sind, auf die Bildung des Herzens haben können; bedenkt man, daß bey den jetzigen Einrichtungen der Staatsverfassungen die Dichtkunst und Musik nicht so, wie ehemals bey Griechen, in die Angelegenheiten des Staates vermischt sind, und daß also heut zu Tage das Lied das einzige Produkt der Ton- und Dichtkunst sey, an dessen Inhalte noch jede Volksklasse, noch jedes Individuum derselben, unmittelbares Interesse finden kann, so muß man sich allerdings wundern, daß man den Opern, Sinfonien, Sonaten <904> u.d.gl. das Lied fast ganz aufopfert. -

Wer die Verfertigung eines Liedes für eine Kleinigkeit hält, an die man sich wagen darf, ohne die Fähigkeit zu besitzen, größere Tonstücke bearbeiten zu können, irrt sich eben so sehr, als derjenige, welcher glaubt, der wahre Ausdruck der Empfindungen könne bloß durch lange Ausführungen der Tonstücke, und durch Anhäufung vieler Instrumente bey der Begleitung des Gesanges, erreicht werden.

"Freylich" (sagt Sulzer) "erfordert das Lied weder schwer Künsteleyen des Gesanges, noch die Wissenschaft, alle Schwierigkeiten, die sich bey weit ausschweifenden Modulationen zeigen, zu überwinden. Aber es ist darum nichts geringeres durch eine sehr einfache und kurze Melodie den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden. Denn hier kommt es nicht auf die Belustigung des Ohres an, nicht auf die Bewunderung der Kunst, nicht auf die Ueberraschung und schwere Modulationen; sondern lediglich auf Rührung."

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 901/902):

Ode auf das Geburtsfest der Durchl. Fürstin Auguste Luise Friederike II. nebst einer Abhandlung über die Cantate von Joh. Heinz Weißmann. Seite 19.

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