Koch: Musikalisches Lexikon

Ouverture,

<1126> bezeichnet im weitern Sinne des Wortes jedes ausgeführte vollstimmige Instrumentalstück, welches der Oper, Cantate, dem Ballette u.d.gl. zur Einleitung oder Eröffnung dienet. Im engern Sinne hingegen verstehet man darunter eine besondere Gattung der Eröffnungsstücke, die französischen Ursprunges ist, und besonders von Lülli eine bestimmte <1127> Form erhalten hat. Diese Gattung der Ouvertüre bestehet aus einem nicht allzuweitläuftig ausgeführten Satze von langsamer Bewegung und von ernsthaftem, aber erhabenem und feurigem Charakter, der in den 4/4 Takt eingekleidet ist, und der unmittelbar in eine Fuge von munterer Bewegung und willkührlicher Taktart übergehet. Diese Fuge wird gemeiniglich als eine freye Fuge behandelt, und mit verschiedenen nicht unmittelbar aus dem Hauptsatze oder Contrasubjecte fließenden Zwischensätzen vermischt, die oft von den Füllstimmen als Solosätze vorgetragen werden. Nach dem Schlusse der Fuge wird mehrentheils der erste langsame Satz (den man das Grave nennet) entweder ganz, oder nur zum Theil in der Haupttonart wiederholt.

In dem letzten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts wurde diese Form der Eröffnungsstücke auch in Deutschland gebräuchlich, wo sie späterhin vorzüglich Telemann äußerst fleißig1 bearbeitete. Hasse, Graun, und andere Tonsetzer, die gegen die Mitte des verwichenen Jahrhundertes blüheten, bedienten sich derselben ebenfalls oft vor ihren Opern. Ueberdies wurde sie nicht bloß als Einleitung großer Singstücke, sondern auch sehr oft mit hinzugefügten letzten Allegro, und mit einigen demselben vorhergehenden charakteristischen Tanzmelodien verbunden, in der Kammer- oder Concertmusik anstatt der Sinfonien gebraucht. Gegen das Jahr 1760 fing man an, sie immer seltener zu bearbeiten, so daß sie anjetzt (wenigstens in ihrer <1128> ältern Form) beynahe unter die veralteten Tonstücke gezählt werden kann.2 Unter den neuern Tonsetzern hat Mozart durch die Ouvertüre zu seiner Zauberflöte die Verachtung vollkommen gerächt, in welche diese Gattung der Eröffnungsstücke gefallen zu seyn schien. Er bediente sich aber in dem der Fuge vorhergehenden Satze von langsamer Bewegung (und wahrscheinlich aus wichtigen Gründen)3 nicht der ältern Form desselben. Die ältere Form dieses Satzes hat viel eigenthümliches, und behauptet eine eigene Würde; sie bestehet aus einem kurzen ernsthaften Satze von langsamer Bewegung im 4/4 Takte, in welchem gemeiniglich nach den langen Noten viele geschwind durchgehende folgen, die im Vortrage so viel möglich abgestoßen werden müssen; dieser Satz wird in den Hauptstimmen vermittelst verschiedener freyen Nachahmungen durchgeführt. Die Modulation wendet sich nach der gewöhnlichen nächsten Tonart (nemlich nach der Tonart der Quinte, oder bey der Grundlage einer weichen Tonart, auch nach der Tonart der Terz) hin, in welcher der Satz schließt, und sodann wiederholt wird. Mit der Schlußnote der Wiederholung fängt sodann die Fuge wieder in der Haupttonart an. Aus dem hier eingerückten Anfange und Schlusse eines solchen anjetzt außer Gebrauch gekommenen Satzes wird man die Beschaffenheit desselben deutlicher, als durch eine weitläuftige Beschreibung einsehen können.

Notenbeispiel Sp. 1129
Notenbeispiel Sp. 1131

<1131> Die anjetzt gewöhnlichern Einleitungssätze zu großen Singstücken, denen man den Namen Ouvertüre giebt, haben eine unbestimmte und willkührliche Form; gemeiniglich giebt man ihnen eine dem ersten Allegro der Sinfonie gleiche oder ähnliche Form. Auch der Charakter derselben ist, so wie der Charakter der Fuge in der Ouvertüre im engern Sinne des Wortes, unbestimmt, und richtet sich gemeiniglich nach dem Charakter des Singstückes, dem die Ouvertüre zur Einleitung dient.

Weil die Ouvertüre, sie erscheine in welcher Form sie wolle, als Eröffnungsstück <1132> zur Oper oder zu andern großen Singstücken gebraucht wird, so sucht man sie so interessant zu machen, als möglich ist, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu reizen, und ihre Erwartung in Hinsicht auf das Stück selbst zu erhöhen.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 1127/1128):

Man glaubt, er habe über 600 Ouvertüren verfertigt. Siehe den Artikel Telemann in Gerbers Tonkünstlerlexicon.

Fußnote 2 (Sp. 1127/1128):

Unter den durch Stich und Druck ins Publikum verbreiteten Kunstprodukten scheint Schweizers Alceste das letzte zu seyn, in welchem man die Ouvertüre, nach ihrer ältern Form gebraucht, findet.

Fußnote 3 (Sp. 1127/1128):

Es scheint nemlich ganz und gar kein Ohngefähr zu seyn, warum Mozart die ältere Form des Grave verließ, die für ein Drama von vermischtem ernsthaften und komischen Inhalte zu ernsthaft ist, und deren sich ältere Tonsetzer (z.B. Graun) nur bey dem Drama von tragischem Inhalte bedienten.

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