Koch: Musikalisches Lexikon

Polonoise.

<1158> Ein kleines Tonstück zum Nationaltanze der Polen von feyerlichem gravitätischem Charakter, welches sich in seiner melodischen Einrichtung von allen übrigen Tonstücken sehr merklich auszeichnet. Sie wird jederzeit in den Dreyvierteltakt mit dem Niederschlage anfangend, gesetzt, dessen Bewegung ohngefähr zwischen Allegro und Andante das Mittel hält. Wegen der unbestimmten Figur des Tanzes bindet man sich dabey an keine bestimmte Taktzahl; die beyden Theile, aus welchen sie bestehet, und die beyde in der Haupttonart schließen, können daher, wenn nur der Rhythmus geradzählig bleibt, eine willkührliche Anzahl von Takten enthalten, dabey liebt sie in dem zweyten Takte ihrer melodischen Theile einen merklichen Einschnitt. Ihr Eigenthümliches aber, wodurch sie sich von allen andern Tonstücken unterscheidet, bestehet darinne, daß alle Cäsuren ihrer Einschnitte, Absätze und Cadenzen ohne Ausnahme auf den schlechten Takttheil fallen müssen. Nach dem Zeugnisse aller derjenigen Tonkünstler, die sich einige Zeit in Polen aufgehalten haben, tragen die Polonoisen, die man in Deutschland setzt, selten das Originalgepräge des polnischen Geschmacks. Die Polen formiren ihre <1159> Cadenzen jederzeit so, daß sie eine Einleitung von vier Sechzehntheilen enthalten, von welchen das letzte in das Semitonium modi tritt, welches bey dem Schlußtone vorgehalten wird; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 1

oder

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 2

Ferner enthält die ächte Polonoise niemals diejenige Notenfigur, in welcher dem Achtel zwey Sechzehntheile nachfolgen, die eine Lieblingsfigur der deutschen Polonoisen ist, nemlich

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 3

eben so wenig ist die Halbcadenz mit einem Viertel-Vorschlage unter den Polen beliebt, nemlich

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 4

sondern ihre Halbcadenzen sind immer auf folgende und ähnliche Art geformt:

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 5

oder

Notenbeispiel Sp. 1159, Nr. 6

Ehedem war sowohl der polnische Tanz selbst, als auch der in der Melodie desselben herrschende Geschmack in Deutschland beliebter, als in den letzten drey oder vier Decennien des verwichenen Jahrhunderts, <1160> und man setzte nicht selten ganze ausgeführte Sätze in diesem Geschmacke, so wie überhaupt die Polonoise in den ältern Parthien für Instrumentalmusik, und in den so genannten Suiten stets eine Stelle behauptete. Neuerlich scheint sich sowohl der Tanz selbst, als auch der Geschmack an diesen Melodien wieder aus seiner zeitherigen Vergessenheit heraus zu winden.

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