<1390> ist überhaupt genommen diejenige Eigenschaft einer jeden Melodie, wodurch sie geschickt wird von der menschlichen Stimme mit Leichtigkeit vorgetragen zu werden. Insbesondere verstehet man aber darunter das Faßliche und Zusammenhängende der Melodie, welches man dem Holperichten und dem, was man barock nennet, entgegensetzt. Das Singende hat vieles mit dem Fließenden gemein, denn beyde Charaktere scheinen sich bloß dadurch zu unterscheiden, daß das Fließende größtentheils aus nahe an einander liegenden Intervallen bestehet, die bey dem Vortrage mehr zusammengezogen, als abgestoßen werden. Das Singende hingegen muß sich auch in solchen Melodien behaupten, die viel springende Intervallen und viel abgestoßene Noten enthalten, und in welchen die Töne <1391> gleichsam fortströmen; denn auch bey dem Ausdrucke stürmender Leidenschaften oder im Getümmel der Töne, müssen dennoch in der Melodie alle zum Ausdrucke nicht unumgänglich nothwendige Härten und unsangbare Tonfolgen vermieden werden.
In diesem Sinne ist das Singende die Grundlage, wodurch die Melodie zu derjenigen Sprache der Empfindung wird, die jedem Menschen faßlich ist. Mangelt einem Tonstücke diese Eigenschaft, so wird es unverständlich, und es fehlt ihm dasjenige, was die Aufmerksamkeit fesseln sollte.
In einem eingeschränktern Sinne braucht man das Wort singend oder cantabile auch noch,