Koch: Musikalisches Lexikon

Singend,

<1390> ist überhaupt genommen diejenige Eigenschaft einer jeden Melodie, wodurch sie geschickt wird von der menschlichen Stimme mit Leichtigkeit vorgetragen zu werden. Insbesondere verstehet man aber darunter das Faßliche und Zusammenhängende der Melodie, welches man dem Holperichten und dem, was man barock nennet, entgegensetzt. Das Singende hat vieles mit dem Fließenden gemein, denn beyde Charaktere scheinen sich bloß dadurch zu unterscheiden, daß das Fließende größtentheils aus nahe an einander liegenden Intervallen bestehet, die bey dem Vortrage mehr zusammengezogen, als abgestoßen werden. Das Singende hingegen muß sich auch in solchen Melodien behaupten, die viel springende Intervallen und viel abgestoßene Noten enthalten, und in welchen die Töne <1391> gleichsam fortströmen; denn auch bey dem Ausdrucke stürmender Leidenschaften oder im Getümmel der Töne, müssen dennoch in der Melodie alle zum Ausdrucke nicht unumgänglich nothwendige Härten und unsangbare Tonfolgen vermieden werden.

In diesem Sinne ist das Singende die Grundlage, wodurch die Melodie zu derjenigen Sprache der Empfindung wird, die jedem Menschen faßlich ist. Mangelt einem Tonstücke diese Eigenschaft, so wird es unverständlich, und es fehlt ihm dasjenige, was die Aufmerksamkeit fesseln sollte.

In einem eingeschränktern Sinne braucht man das Wort singend oder cantabile auch noch,

  1. um die sanftern Stellen eines Tonstückes von den mehr rauschenden zu unterscheiden; so sagt man z.B. der Sänger habe in seiner Arie die Passagen besser vorgetragen, als die cantabeln oder singenden Sätze;
  2. bezeichnet man mit cantabile oder singend einen Satz von langsamer Bewegung, dessen Melodie in einem so hohen Grade singend ist, daß sie keiner Anhäufung von Spielmanieren u.d.gl. bedarf. Siehe Cantabile.
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