Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 53 - Texterweiterung (2) der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

<*49> Wenn wir der in ihrem Vorbericht ausdrücklich "den Anfängern des Claviers" gewidmeten früher erschienenen "Kunst das Clavier zu spielen", erst nach der Behandlung der "Anleitung" Erwähnung thun, so geschieht das, weil das Hauptwerk sich mit allem Wesentlichen dieses vorbereitenden und in zwei grosse Theile - Klavierlehre, Generalbasslehre - <*50> getheilten Werkchens bereichert hat. So wird man weder in der Elementartheorie, noch in der auf die notierten französischen Spielmanieren beschränkten Manierenlehre, oder in der Lehre vom Fingersatz irgend etwas Neues, vielmehr manches wörtlich "aus der Kunst usw." in die "Anleitung usw." übernommen finden. Einzig der vorbereitende Abschnitt unseres früheren Werkchens, den man mit "Pädagogische Elementarien" überschreiben könnte, baut den des späteren in einigen Punkten, z.B. in den Ausführungen aber die Vorbedingungen des Schülers zum Klavierunterricht, über die sorgsam zwischen gutem Spieler und gutem Lehrer scheidende Wahl des Meisters, in den Notenleseübungen und der Auswahl der vorurtheilslos Alt und Neu gleichermassen berücksichtigenden Literatur, weiter aus.

Zwischen Marpurg und Türk schieben sich eine ganze Reihe von Klavierschulen ein, die im Geist und auf der Grundlage jener Schulwerke geschrieben sind.

G.S. Löhlein: Clavierschule

Die wichtigste und verbreitetste unter ihnen war G.S. Löhleins Clavierschule, Leipzig und Züllichau, Frommann 1765 (1772, 1779 usw. bis 1825), gut methodisch knapp abgefasst und im allgemeinen auf Ph. Em. Bach, Marpurg und Sorge fussend. Der 1. Theil des I. Bd. bringt eine Elementartheorie der Musik (Noten, Pausen, Takt, Schlüssel, Verzierungen, Fingersatzlehre, von der Melodie und dem Spielen selbst, Notenlesung, Stimmung und Inachtnehmung des Klaviers), der 2. eine ausführliche Harmonielehre nach Rameau, sehr wichtige und zeitgeschichtlich interessante Anweisungen für das Akkompagnement (namentlich des Rezitativs) und das Phantasiren. Bd. II enthält eine Generalbasschule mit 6 Sonaten. - Die wichtige Manierenlehre tut er auf 2 1/2 Seiten ab. "Man hat (S. 14) in neueren Zeiten besondere Zeichen erfunden, ihren Vortrag damit zu bestimmen. Herr Bach (Ph. Em.!) ist ... der erste, der sie dem Publico mitgetheilet hat, da sie sonsten nur die besten Clavierspieler als ein Geheimniss für sich behielten." Die willkührlichen Manieren, soweit sie in diesem Ausspruch nicht schon einbegriffen sind, erwähnt er überhaupt nicht. Beim Triller verlangt er Nachschlag und rasches Abgleiten des vorletzten Fingers (Schnellen). Die für die richtige Interpretation auch der alten Klaviermusik so grundlegende Affektenlehre stellt er (S. 63) voran. Alles hängt vom Vortrag, vom Anschlage (touche) ab. Man muss (S. 64) "durch diesen, aus der Seele oder Empfindung die Finger gleichsam reden lassen, um den Zuhörer in die Leidenschaft (= Gemütsstimmung) zu versetzen, die der Komponist zu erregen gesucht hat, den Anschlag der Stimmung des Stückes gemäss einrichten." "Ein Musicus (S. 65) muss Genie und Gefühl haben, wenn er durch sein Spielen Leidenschaften erregen will, denn wer selber nicht empfindet, so kann er durch sein Spielen nur höchstens Lust zum Tanzen machen: ein solcher verdient aber den Namen Musicus nicht". In dem Kapitel über Fingersatz wird (S. 18 Anm.) die Bemerkung interessiren, dass es zu L.s Zeiten tatsächlich noch einige gab, "die es für unanständig halten, den Daumen beym Clavierspielen zu gebrauchen". Man soll (S. 20) beim Anfänger auch nicht zu lange <*51> mit dem Studium der Mollskalen warten, da sein Ohr sonst allzu sehr von den Durtönen eingenommen ist. Seine kurzen Bemerkungen im neunten Kapitel "Vom richtigen Notenlesen" gehen, obwohl gut pädagogisch, über Bekanntes nicht hinaus. Wer geschmackvoll spielen will, muss den Unterschied zwischen leichter und schwerer Zeit, die in der Regel stärkere Betonung der Dissonanzen, die Markierungen der Wendungen in eine andere Tonart, die sorgfältige Beobachtung der über den Noten gesetzten Zeichen (Bogen, Punkte usw.), den Vortrag der Triolen in gleichem Werthe mit Betonung (nicht längerer Haltung) der ersten Note nicht vergessen. - Weil seine Bemerkungen über die Begleitung des Rezitativs (S. 156f.) knapp und klar sind, und diese Materie (vgl. Bach, Marpurg, Wolf, Türk u.a.) auch für die Aesthetik des Klavierspiels wichtig und heute fast unbekannt erscheint, seien seine wichtigsten Vorschriften als typisch ein für allemal erwähnt: Sich nach dem Sänger richten, unter Umständen ganz frei im Takt spielen, die Harmonien auf verschiedene Art brechen (also nicht glatt anschlagen!), dem Sänger schwierige Intervalle vorwegschlagen, im Basse ruhig harmonische Ausfüllungen vornehmen, aber nach der Brechung auf den mit gewöhnlichen Noten vorgeschriebenen Noten liegen bleiben. Nicht arpeggiert wird bei SchIussfällen (Kadenzierungen) und Einsätzen nach einer Pause, die besonders kurz zu geben sind, wenn zwei Akkorde auf sie folgen.

J.F. Wiedeburg: Der sich selbst informirende Klavierspieler

Neben Löhlein ist weiterhin zu erwähnen J.F. Wiedeburg, Der sich selbst informirende Klavierspieler, 3 Theile, Halle (u. Leipzig),Waisenhausbuchhandlung 1765/7 1775 (desgl.); des Nordener Wiedeburgs Werk ist also im ersten eile eine Elementar-Klavierschule für den Selbstunterricht. Er giebt im ersten Buch eine Elementartheorie des Klavierspiels (Von der Erkenntniss der Klaviere, von den Noten, dem Zeitmass Fingersatz, Akkord-, Tonartenlehre und kurze Anweisung, ein Lied mit dem Generalbass zu begleiten). Mit Ph. Em. Bach und Marpurg verlangt er ein Spiel "mit schlappen Nerven und gebogenen Fingern, den Daumen (nicht herabhängend) über der Tastatur", zur ruhigen Fingerhaltung namentlich beim Daumengebrauch will er rigoros ein Stückchen Blei auf die Hände gelegt haben, das nicht herabfallen darf. Den Takt empfiehlt er mit Hilfe einer Wanduhr (Hanguhr) zu lernen, die Anfangsgründe des Generalbasses und den Fingersatz sucht er mit Hilfe des grossen Hallischen Gesangbuches zu lehren. Alles, da es ja auf einen immer natürlich sehr problematisch bleibenden Selbstunterricht ankommt, mit deutscher Gründlichkeit, aber zugleich mit einer freilich gebotenen, aber wahrhaft furchtbaren Pedanterie und nervenzerrüttenden Umständlichkeit und Abschweifungssucht. In den Prinzipien des vorgetragenen Lehrstoffes fusst Wiedeburg durchaus - namentlich vor allem in der Fingersatztheorie - auf Ph. Em. Bach. Von grossem Werthe zur Ergründung vieler Einzelheiten alter Klaviertechnik ist namentlich der grosse, einen ganzen dicken Band füllende dritte Theil des umfangreichen Werkes: Die Anleitung zum Phantasiren und Komponiren, während der wieder sehr umfangreiche zweite Theil des I. Bd. in 2 Hauptkapiteln eine eingehende Generalbasslehre enthält unter besonderer Zugrundelegung von Sätzen aus dem Wernigeroder Choralbuch.

G.F. Wolf: Unterricht im Klavierspielen

Mit Löhlein und Wiedeburg ist eins der wichtigeren deutschen Werke dieser Zwischenzeit Georg Friedrich Wolfs Unterricht im Klavierspielen, Göttingen 1783, neue Auflagen Halle, Joh. <*52> Christian Hendel, 1784, 1789, 1799. Der I. Theil enthält die Klavierschule nebst Elementartheorie, der II. Theil eine Generalbassanleitung. Im allgemeinen fusst das Werkchen auf Ph. E. Bach (Versuch), Marrpurg und Petri (Anleitung) und Türk (s. u.). Die Klavierschule ist in neun Abschnitte eingetheilt. Die Einleitung - Sitz und Haltung des Schülers, seiner Arme, Hände und Finger - folgt Bach, Marpurg und Petri (s. u.). Bachisch und Marpurgisch insbesondere sind die Verwerfung alles "klebrichten" Spiels und die Empfehlung des zur Erlangung von Feinheit und Ausdruck, des Sanften und Sangbaren einzig geeigneten Klaviers (Clavichords), nicht des "mehr Kräfte und Geschwindigkeit in den Fingern" erfordernden Fortepiano oder Klavicymbel für den Elementarunterricht. Marpurg folgt der Verfasser auch in der Betonung "nicht gespannter" (schlaffer) Nerven, "rund gemachter Hand" (leise Vorahnung der modernen Leschetizkyschen Hohlmuschelhandform!) und eines richtigen, auf "Bequemlichkeitkeit und Anstand" gegründeten Fingersatzes. Der Unterarm mag ein weniges nach der Tastatur herunterhängen, die Hand also etwas tiefer als der Ellbogen liegen; der Ellbogen wird am Körper, nicht schwebend gehalten, die Hand auswärts gedreht; der Daumen wird mit den übrigen Fingern in gleicher Höhe und Tiefe, in der Schwebe gehalten. Wolf ist ein Gegner der willkührlichen Manieren ("Man mus nicht mehr Manieren vorbringen, als der Componist vorgeschrieben hat: denn jeder Componist, der seine Stücke nicht wil verhunzen lassen, setzt alle Manieren, die er ausgeübt wissen wil. Das Gegentheil hören wir alle Tage, und dies komt von dem falschen Begriffe her, den man sich von den Manieren macht"). So theilt er nur die in beiden Händen zur Erzielung von Leichtigkeit und Fertigkeit im Spielen zu übenden wesentlichen Manieren mit. Die kleine elementare Vortragslehre im 9. Abschnitt geht nach Sitte der Zeit auf Affekt, Charakter und Gedanken des Stückes zurück, stellt aber zu Anfang auch die individuellen tonlichen Eigenschaften des Instruments zu wohlerwogener Berücksichtigung als den Vortrag und die Möglichkeit, Manieren anzubringen, mitbestimmend in den Vordergrund. Der Anhang zum ersten Theil wiederholt Türks, der Vorrede zu seinen sechs ersten leichten Sonaten beigegebenen Zeichen der Agogik und Accentuation ([Sonderzeichen]) die indess bis auf das Accentzeichen weitere Verbreitung nicht gefunden haben. Mit Bachs gerade heutzutage dringlicher Forderung für den Klavierspieler, singend zu denken, heisst es: "Man ergeife nur alle mögliche Gelegenheit, gute und vollständige Musiken zu hören, vorzüglich aber gute Sänger, denn alles, was man gut vortragen will. muss man sich selbst vorsingen oder wenigstens singend denken können. Denn der Klavierspieler, sowie der Komponist , der nicht singen oder singend denken - kann wird auch nie im Stande seyn, etwas singend vorzutragen und zu setzen, welches doch die Hauptsache eines Klavierspielers und Komponisten ist." Seine Ausführungen (17. Abschnitt) über dasRezitativ und Akkompagnement decken sich durchaus mit denen seiner Vorgänger, namentlich Löhleins. Geschwindigkeit und Langsamkeit im Arpeggio der Rezitativbegleitung - dies mag zu des letzteren Vorschriften noch hinzugefügt sein- hängen vom Zeitmass und Inhalt des Rezitativs ab.

J.S. Petri: Anleitung zur praktischen Musik

Die übrigen von Forkel verzeichneten deutschen Elementarschulen dieser Zwischenzeit können als bedeutungslos übergangen werden. Einzig des Laubaner Kantor Joh. S. Petris Anleitung zur praktischen Musik vor neu angehende Sänger und Instrumentspieler, <*53> Lauban 1767, Joh. Christoph Wirthgen, 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage Leipzig 1782, Breitkopf & Härtel, ein wichtiges Spezialwerk zur Geschichte des Bogenflügels, Pantalons und Tangentenflügels, mag namentlich wegen des Kapitels: Vom Klaviere und der Klavierapplicatur (2. Aufl. S. 332-364) ausdrücklicher erwähnt sein. Der Sitz des Spielers sei gerade vor dem Klavier, so dass man das eingestrichene c mitten vor sich hat, nicht zu nahe an das KIavier und nicht zu weit, etwa eine gute Apanne davon, so dass man alle Töne mit beiden Händen ohne Uebelstand erreichen kann, nicht zu hoch und nicht zu tief, so dass Ellenbogen und Ballen an den Händen in einer graden Linie stehen; zur Noth etwas höher, nur nicht unbequem. Bei zu niedrigem Sitz (man denke abermals wie bei Wolf an die moderne Leschetizky-Methode!) hat man in der Hand keine Kraft. Der Elementarschüler blicke anfangs streng auf die Noten, nur, wenn er sich verirrt, aufs Klavier; daher ist frühzeitiges Auswendigspielen durchaus verpönt. Fertigkeit im Treffen und egales Anschlagen der Finger ist wichtig, zur Abgewöhnung des Liegenlassens der Finger auf den Tasten führe man den Anfänger zum Positiv oder zur Orgel. Im Generalbass stützt sich Petri auf "des Berlinischen Herrn Bachs" (Ph. E. Bachs) Schriften, in dem für den Elementarunterricht so ausserordentlich wichtigen und von Anfang an vom Lehrer aber die Noten zu schreibenden Fingersatz und der Lehre von den Manieren - diesem (S. 28) "Anstand der Musik" ... diesem "Putz des Forte und Piano" ... dieser "Politesse" - auf Marpurg (Anleitung) und "den ostfriesischen Herrn Wiedeburg". Petri verwahrt sich gegen das Vorurtheil, Orgel und Klavier zusammen studiren zu lassen ("Zudem sind mir Organisten bekannt, die mit dem achten oder zehnten Jahre die Orgel gespielet und sowohl in der Orgel stark worden, als auch das feine und zärtliche des Clavieres aufs vollkommenste erlanget haben"). Das elementare Vortragskapitel gründet sich wieder auf die alte, den Charakter eines Stückes zur Voraussetzung nehmende Affektenlehre. Von besonderem Interesse endlich sind die Winke zum geschickten und vergeistigten Präludiren und Phantasiren sowie (S. 42) zum Akkompagniren des Cembalisten in der Kirche ("Der Cembalist accompagniere, und besonders beim piano, so kurz als möglich und ziehe die Finger gleich von den Akkorden ab. In Rezitativen kann er bisweilen des Arpeggirens oder der zergliederten und gebrochenen Akkorde mit gutem Erfolge sich bedienen. Triller darf er garnicht machen mit der rechten Hand, denn er soll keine Melodie spielen").

A. Bemetzrieder: Leçons de clavecin et principes d'harmonie

Von ausländischen Klaviermethoden dieser Zeit haben nur die auch ins Englische und Spanische übersetzten Leçons de clavecin et principes d'harmonie des Elsässers Anton Bemetzrieder, Paris (Bluet) dank Diderots, des Aufklärungsphilosophen Gönnerschaft, in Paris einige Jahre bedeutendes Aufsehen gemacht und Schrift und Gegenschrift hervorgerufen. Der Schwerpunkt dieses behaglich und mit all' der fein sarkastischen Grazie und beissenden Ironie der Meister des "Sens commun" als Trialog zwischen Lehrer, Schüler (im zweiten Theil: Diderots Tochter) und Philosoph (Diderot) geschriebenen und in 12 Dialoge (7 Unterrichtsstunden) abgetheilten Werkes ruht durchaus in der Elementartheorie (II,2 bis IV,4) und der Generalbass- und Harmonielehre (V,I bis XII,7). Der Inhalt ist Bemetzrieders alleiniges geistiges Eigenthum; Diderot verwahrt sich <*54> in dem von ihm vorangestellten Vorwort ausdrücklich gegen jede sachliche Mitarbeit und nimmt allein die Rechte des Korrektors von Bemetzrieders wohl allzu elsässischem Französisch (François Tudesque) in Anspruch. Das eigentlich Klaviermethodische muss man sich indirekt zusammenstellen. Es ist nicht entfernt genug, um von irgend einem System Bemetzrieders reden zu können. Dem ironischen Freunde entwickelt der Meister seine Ansicht von einer guten Elementarmethode und einem guten Lehrer (I,1). Der Lehrer muss dem Schüler alles Lernen schnell, leicht und heiter vorstellen, wenig voraussetzen und seinen Ehrgeiz ohne die geringste Strenge und ohne den Zwang vielstundenlangen Uebens unmerklich zu wecken wissen. Der Schüler muss die Musik lieben, nicht durch einen unerträglichen pedantischen Unterricht hassen lernen. Der Lehrer muss alle erforderlichen Eigenschaften des guten Erziehers besitzen: Wissen, klare Darstellung, Individualisierungsgabe, Gründlichkeit, Anstand, Selbstlosigkeit, Fröhlichkeit. Sein ästhetisch-technisches Glaubensbekenntniss (IV,4) ist das altfranzösische: man soll liebenswürdige, leichte, graziöse Dinge ohne sichtliche Mühe und Anstrengung, mit Sauberkeit (Egalité), guter Handhaltung spielen lernen. Ein lebhaftes Mienenspiel beim Vortrag lässt besondere Hoffnungen auf die innerliche musikalische und kompositorische Begabung des Schülers zu. Ausgangs- und Angelpunkt jedes guten Instrumental-Unterrichts bleibt der Gesang: gewiss das wichtigste Resultat dieses methodisch nur sehr wenig ergiebigen Schulwerkes, das in den Namen Schobert, Wagenseil, Eckart, Filtz, Honavre uns einige Lieblinge der damaligen französischen Hausmusik für Klavier vorstellt.

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