Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

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J.N. Hummel: Ausführliche theoretisch-praktische Anweisung (1828)

Bedeutender und als universale Schulwerke auch heute immer noch einzig in ihrer Art sind die jetzt folgenden drei großen Klavierschulen von Hummel, Kalkbrenner und Czerny. Wir besprechen zunächst

J.N. Hummels Ausführliche theoretisch-praktische Anweisung zum Pianofortespiel vom ersten Elementar-Unterrichte an bis zur vollkommensten Ausbildung. [Wien] 1828.

Dieses Werk zeichnet sich durch eine sehr reichhaltige Anzahl von Uebungsbeispielen vor allem aus und giebt dadurch für die neue Anschauung des Klavierstudiums einen gegen die früheren Gewohnheiten ganz abweichenden Standpunkt an. Nur fehlt es Hummel noch an der praktischen Einsicht der Czerny'schen Lehrmethode, die auf kürzerem Wege die Mechanik zu bilden weiß, und in dieser Beziehung den ganzen neueren Fortschritt begründet hat. Hummel ist noch nicht Mechaniker genug, die Handbildung ist bei ihm noch nicht ein Erzeugniß rein technischer Arbeit geworden, aus welcher sie durch die zwar geistabtödtenden, aber schnell wirkenden Mittel späterer Methodik als ein vollkommener Mechanismus hervorging. Er <79> theilt das ganze Gebäude der Studien in viel zu viel Unterschiede, er hat überall noch zu viel beschauliche Gedanken, rechnet zu wenig auf die Vortheile, welche die in einem Kapitel angebahnte Praxis auf das folgende übertragen und dessen Abkürzugnen gestatten muß, ist viel zu wenig auf die Oeconomie der Zeit bedacht und giebt bei aller Breite doch nicht den heutigen Umfang der Klaviertechnik. - Indem er auf die Zunahme der Kräfte des Lernenden durch eine tüchtige Absolvirung der Elemente nicht genug rechnet, hält er die Bildung desselben durch zu viel Kleinigkeiten auf und setzt ihn nach der mühevollen und langwierigen Durchwanderung all der kleinen Uebungsbeispiele der ersten beiden starken Bände doch der Gefahr aus, allenthalben im Praktischen die höchste Unbeholfenheit zu zeigen und in einer ganz anderen Methode die letzte Bildung zu vollenden.

Wir gehen zur Betrachtung einiger Einzelnheiten über.

Im ersten Theile giebt Hummel den Rat, das Spiel nicht bis zur mechanischen Abstumpfung zu treiben, sondern es auf eine reguläre, aber aufmerksame Uebungszeit von höchstens drei Stunden täglich einzuschränken. Mit dem Mechanischen soll auch das Musikalische in dem Studiren von Stücken Hand in Hand gehen. Das Auge soll auf die Noten gerichtet sein, und die Finger müssen bloß durch das Gefühl die Tasten finden lernen. Deßhalb ist auch das Auswendiglernen zu unterdrücken. Leichte Stücke und langsames Spiel müssen den Aufang bilden. Das klingt ähnlich wie bei Türk; betreffs des Auswendiglernens herrscht aber heute eine ganz andere Ansicht.

Hinsichtlich der Haltung bestimmt Hummel, daß der Schüler vor der Mitte der Klaviatur, 6-10 Zoll (also wie Marpurg angab)von derselben entfernt sitzen müsse. Die Füße stehen dabei fest auf, bei Kindern sind sie zu unterstützen. Die Ellenbogen sind gegen den Leib gewendet, ohne sich demselben anzuschmiegen. Die Muskeln der Arme und Hände müssen, frei von Anstrengung, nur so viel <80> Spannkraft annehmen, daß sie die Finger ohne Schlaffheit zu tragen vermögen. Die Hände halte man ein wenig gerundet und wie die Füße etwas auswärts. Der Daumen und der fünfte Finger bilden eine horizontale Linie auf der Klaviatur. Das platte Auflegen der Finger und das Einbohren in die Taste, bei herabhängender Hand, ist ganz fehlerhaft und verursacht ein mattes, lahmes Spiel. Der Daumen berührt die Taste nur mit der Schneide des vordersten Gliedes und hält sich stets eingebogen, sich unter den zweiten Finger neigend. Jede heftige Bewegung der Ellenbogen und Hände ist zu vermeiden, die Muskeln derselben dürfen nicht stärker angespannt werden, als eine ruhige und freie Haltung der Hand erfordert. Die Finger müssen sich leicht und locker fortbewegen und nicht zu hoch von der Taste erheben. Der Anschlag muß bestimmt und gleichmäßig sein, alles Drücken und Schlagen vermieden und weder Hand noch Finger aus der natürlichen Lage gebracht werden. Logiers [Textzusatz der 8. Auflage] Finger- und Handgelenkführer ist dabei mit Nutzen anzuwenden. (Wir begegnen hierbei zum ersten Male einem künstlichen mechanischen Mittel.)

Hierauf folgt die übliche Vorführung der Terminologie und sonstiger Elemente, und muß der erste Theil, wegen der Aufsammlung zweckmäßiger Fingerübungen und kleiner Stücke sowie wegen praktischer Fingerzeige aller Art, als der werthvollste bezeichnet werden. Wie wenig aber die Hummelsche Mechanik in die Unterscheidungen der heutigen eingedrungen war, geht z.B. aus seinen Notizen über die Punkte oder Striche, welche das Staccato anzeigen, hervor. Ohne sie zu unterscheiden, giebt der Verfasser nur an, daß die Hände dabei nicht erhoben werden, sondern nur die Finger ganz leicht von den Tasten einwärts schnellen.

Im zweiten Theile wird der Gesichtskreis über das ganze Gebiet der Hummel'schen Technik eröffnet und indem der Verfasser zehn Kapitel darüber, mit einer großen Auswahl von Fingerübungen <81> aufstellt, erledigt er zugleich die Frage wegen des Fingersatzes. Dies ist offenbar ein besserer Einblick in das praktische Bedürfniß, als Türk's und Bach's Schulen an den Tag legen, welche allerhand Regeln aufstellen, ohne praktisch den Instinkt der Finger zu bilden. - Die zehn Kapitel sind nun folgende:

  1. Fortrücken mit einerlei Fingerordnung bei gleichförmiger Figurenfolge.
  2. Untersetzen des Daumens und Uebersetzen über den Daumen.
  3. Auslassen eines oder mehrerer Finger.
  4. Vertauschen des einen Fingers mit dem andern auf demselben Tone.
  5. Spannungen und Sprünge.
  6. Gebrauch des Daumens und des fünften Fingers auf den Obertasten.
  7. Ueberlegen eines längern Fingers über einen kürzern, und Unterlegen eines kürzern unter einen längern.
  8. Abwechselung eines oder mehrerer Finger bei wiederholtem Tonanschlag auf einer Taste; wiederholte Anwendung eines Fingers auf zwei oder mehreren verschiedenen Tasten.
  9. Eingreifen der Hände in einander und Ueberschlagen einer Hand über die andere.
  10. Stimmenvertheilung unter beide Hände und Fingerordnungs-Licenz beim gebundenen Styl.

Das Weitschweifige dieser Eintheilung ist bereits erwähnt. Bei der Handbildung kommt es auf eine gewisse Elasticität und Ausgelöstheit aller Spielgelenke an, und nicht die figurative Verschiedenheit der Uebungen allein befördert dieselbe, sondern eine Einwirkung auf die Anschlagsart, und man kann annehmen, daß, wer den ersten Theil und im zweiten die Kapitel 1, 2, 5 gehörig absolvirt hat, vorkommenden Falles die Aufgaben, die in den Kapiteln 3, 4, 6, 7, 8, 9 vorliegen, ebenfalls geschickt überwinden <82> wird. Abgesehen davon, sind zuweilen ganz verschiedenartige Aufgaben, die wohl einer gesonderten Betrachtung bedürfen in einem Kapitel vereinigt, wie z.B. im achten. Von einer Verschiedenheit der Anschlagsarten ist nirgends die Rede.

Der dritte Theil des Werkes ist dem Vortrage gewidmet. Unglücklicherweise bringt Hummel die Lehre von den Manieren, analog den Vorgängern, hiebei noch einmal zur Sprache. Aber selbst Bach und Türk waren hier im begrifflichen Ausscheiden bestimmter und subsummirten diesen Theil nicht unter den Vortrag. Die Manieren sind ein Technisches und rein Mnemonisches und tragen zu dem Geiste, den der Vortrag wiedergeben soll, das Wenigste bei. Wir übergehen deßhalb diesen Abschnitt, zumal derselbe bei weitem nicht so vollständig ausgefallen ist, als bei Türk. Es sei dabei nicht übersehen, daß dies dem fortgeschrittenen Zeitgeschmacke angemessen war. Der Verfasser handelt nur die zu seiner Zeit gebräuchlichen Verzierungen ab und verweist bequemerweise zum Verständniß der älteren Verzierungen auf die damaligen Lehrbücher. Daß Hummel den Triller mit der Hauptnote anfangen läßt, wurde bei Türks Trillertheorie erwähnt.

Näher auf das eigentliche Objekt eingehend, unterscheidet Hummel richtigen und schönen Vortrag. "Jener bezieht sich auf das Mechanische des Spiels und kann genau durch Zeichen angegeben werden. Der schöne bezieht sich auf das Abgerundete, einem jeden Musikstück, einer jeden Stelle Angemessene, auf das Geschmackvolle und Angenehme, namentlich auch in den Verzierungen, und kann bloß angedeutet werden. Der Ausdruck bezieht sich unmittelbar auf das Gefühl und verlangt das Nachempfinden und Wiedergeben dessen, was der Komponist in sein Stück gelegt hat. Dieser Ausdruck kann geweckt, angedeutet, aber nicht gelehrt werden. Vor allen Dingen muß man gut vortragen hören, besonders Gesang, in der Jugend wohl selbst gesungen haben. Hasse, Naumann, Gluck, Mozart, beide Haydn und die berühmtesten Komponisten aller Zeiten sangen in ihrer Jugend. Die Beherrschung der Schwierigkeiten macht noch keinen Meister. Zu verbannen ist das scheinbare Gefühl, wie es <83> sich in der Gestikulation, zu vielem Pedal und der Ueberhäufung von Verzierungen ausspricht."

Hiermit nicht ganz im Einklange heißt es weiter: "Hauptgrundlage für den schönen Vortrag ist die vollkommene Beherrschung der Finger, welche jeder möglichen Abstufung des Tonanschlags fähig sein müssen. Dies kann nur durch die feinste Ausbildung des Fingergefühls bis in die Fingerspitze hinein bewirkt werden, und für den Anschlag vom feinsten Berühren an, bis zur größten Kraft von Einfluß sein. Die Finger müssen beim leisesten Berühren in lockerster Haltung, sowie beim festesten Anschlage und angezogenen Muskeln gehorchen. Der Spieler studire den Charakter des Tonstücks, er berücksichtige, ob er ein Allegro oder ein Adagio vorträgt. Jenes erfordert Glanz, Kraft, Bestimmtheit und eine perlende Schnellkraft der Finger. Die gesangvollen Stellen können zwar mit etwas, aber um der Einheit willen nicht zu sehr vom Tempo abweichender Hingebung vorgetragen werden. Das Tempo muß überhaupt mit voller Bestimmtheit ergriffen und nicht aller Augenblicke schwankend ausgeführt werden. Das Adagio erfordert Ausdruck, Gesang, Ruhe. Die Töne müssen getragen, angehalten, miteinander gebunden und durch wohl berechneten Druck singend gemacht werden. Die Verzierungen müssen langsamer, mit mehr Schmelz und Zartheit gespielt werden, als im Allegro, zuweilen muß der Finger den leisesten Abzug auf der Taste ausüben, das feinste Gefühl bethätigen. Aufwärts steigende Läufe und Töne werden crescendo, abwärts gehende diminuendo vorgetragen, es giebt aber auch Fälle, wo der Komponist das Umgekehrte oder egale Stärke will."

In den nun aus seinen Konzerten angeführten Beispielen wiederholt Hummel zum Theil das vorher im Allgemeinen Aufgestellte, giebt die Accentuation sehr treffend an, hält bei singenden Stellen auf Nachgeben, bei feurigen auf ein Vordrängen beim Adagio <84> wird das Nachgeben, besonders bei Schlußwendungen, die Begleitung aber taktfest verlangt und im ganzen auf ein einheitliches Tempo gedrungen. Bei ungeraden und gehäuften Notenzahlen im Adagio soll die Eintheilung vorher überlegt und die größere Schnelligkeit gegen das Ende zu gewählt werden.

An einer weiteren Stelle ertheilt der Verfasser einige beim Unterrichte praktische Rathschläge, um den Sinn für die Declamation zu wecken, ohne jedoch die Regeln derselben selbst näher anzugeben, und bespricht schließlich die Anwendung der Pedale. Hierin weicht er von den allgemeinen Gewohnheiten damaligen Geschmackes ab, indem er sich im ganzen gegen die Pedale erklärt. "Mozart und Clementi hätten dieses Mittels nicht bedurft, um den Ruhm der ausdrucksvollsten Klavierspieler ihrer Zeit zu erwerben. Ganz ist freilich der Gebrauch der Pedale nicht zu umgehen, besonders der des Dämpferpedals in langsamem Tempo, wo der Gesang sich auf breiter, harmonischer Grundlage entfaltet."

Dies ist im wesentlichen das von Hummel Mitgetheilte. Vieles darunter ist von bleibender Bedeutung, es fehlt nur die Tiefe des Eindringens und systematische Darstellung. Eine größere Berücksichtigung der Technik und ein Versuch, dieselbe in eine Uebersicht zu bringen, sind die wesentlichsten Fortschritte dieses Werkes gegen die früheren. In Bezug auf Ausdruck theilt Hummel mit seinen Vorgängern, sowie dem größeren Theil seiner Nachfolger, die dilettantische, unbestimmte Ahnung eines Empfindens, das vorhanden sein müsse, das sich aber nicht lehren, nur leiten lasse. Marx erst hat es verstanden, das Empfinden zu klarem Bewußtsein zu bringen; in seine Einzelheiten einzudringen, kann überhaupt nur ästhetischer Erkenntniß gelingen. Hummel knüpft wie Adam an die äußerlichen Namen des Allegro und Adagio an, um Regeln über den Vortrag zu geben, anstatt die Idee in ihren Urbestandtheilen zu analysiren, <85> aus welcher wie aus einem Boden alle Formen der Komposition erwachsen.

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