Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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Schließlich erfolgt eine Angabe der Accente für eine längere Liedform, nämlich das Thema der Beethoven'schen As-dur-Sonate Op. 26. - Der erste Satz umfaßt 8 Takte, diese bestehen aus <308> einem Vorder- und Nachsatze, jeder zu vier Takten. Der Gipfelpunkt der Steigerung befindet sich im vierten Takte und fällt hier der Accent auf die Singenote des wegen ihres Höhenverhältnisses. Im sechsten Takt geht die Melodie noch höher hinauf bis f und erhält hier ebenfalls eine schärfere Betonung. Von da ab senkt sich die Tonstärke und giebt nur auf den Akkord fes b des wegen seiner dissonirenden Beschaffenheit noch einen leiseren Accent. - Die nächste Gruppe von 8 Takten wiederholt etwas variirend die erste, schließt sich in der Accentuation ganz derselben an, und bedarf nur im zweiten Takte noch eines neuen Accents aus metrischen Gründen, um unter 6 gleichen Noten as, die wichtigste, auszuscheiden. - Der zweite Theil von 10 Takten erhebt sich zu etwas unruhigerer Stimmung, die sich aber aus Rücksicht gegen den Charakter des Totalbildes nicht im Tempo ausdrückt. In der Accentuation jedoch macht sie sich durch eindringlichere Hervorhebung der Noten as im sechsten und g im achten Takte bemerkbar. Die letzte Gruppe von 8 Takten entspricht der zweiten und hat auch dieselbe Accentuation.

Es ist hier noch zu bemerken, daß in vielen rezitirenden Melodien auch recht wohl mehrere Noten hintereinander einen gleich starken declamatorischen Accent erhalten können, wie dies z.B. in Bachs figurirtem Choral: "Wer nur den lieben Gott läßt walten", in Marx Auswahl Nr. 8 [BWV 647] mehrfach nothwendig ist.

Ein Unterschied zwischen den beiden Zeichen > und -- oder [Staccatopunkt mit portato-Balken - Grafik] ist ebenfalls zu beachten. Das erste Zeichen ist ein schärferer Accent, der mehr durch den stehenden Finger herausgebracht wird; in manchen Fällen sogar durch Schlag oder ungebundenen Einsatz. Der liegende Strich ist ein milderer Accent, der mehr singt und durch Fingerdruck oder einen in Druck sogleich übergehenden gelinderen Schlag, meistens aber in gebundener Spielweise auszuführen ist. Wo er ungebunden einsetzt, wird meist dem Strich noch der Punkt beigefügt.

<309> Ich mache übrigens darauf aufmerksam, daß vielfach in der modernen Literatur, namentlich bei Chopin, ein besonders feiner Piano-Einsatz mit dem Accent logisch gleichbedeutend sein kann. Im Des-dur-Notturno [op. 27,2] könnte man beispielsweise das b im vierten Takt so fassen:

[Notenbeispiel S. 309, Nr. 1: Chopin Nocturne op. 27,2]

Der Ton tritt dann mit derselben Wichtigkeit heraus, als wenn man nach Chopin's Vorschrift ihn stärker faßte. Nur ist diese Spielweise mit Vorsicht zu verwenden, da sie leicht ins Manierirte fällt. Für klassische Werke ist sie ihres überfeinen Reizes halber kaum zu empfehlen.

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