Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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3. Wir gehen zu der Fülle derjenigen Gebilde über, die weder rein cantilenenartig, noch rein passagenhaft zusammengesetzt sind, sondern beide Momente mischen. Diese umfassen zunächst die getragenen, melodiösen Tonstücke in langsamer Bewegung, welche mit Coloraturen und Klavierpassagen geschmückt sind.

Die besten Beispiele werden sich in jedem Mittelsatze eines Hummel'schen Konzertes, in den Adagiosätzen Beethoven'scher Sonaten und zahlreichen modernen Notturno's (z.B. Chopin Op. 9 Nr. 2, Op. 37 Nr. 1, Op. 15 Nr. 2) auffinden lassen. - Die Regeln der Accentuation setzen sich hier aus den in den beiden vorigen Nummern aufgestellten zusammen und ist im ganzen nichts Neues hinzuzufügen. Die Passagen werden hier schon in der Anlage der Komposition keine so prävalirende Rolle erhalten haben, daß sie ihre Accentuation in der Eindringlichkeit geltend machen, die in der ersten Nummer vorausgesetzt werden mußte. Sie sind also im Ganzen der Gesanglichkeit enger anzuschmiegen, werden zuweilen nur in buntere Figuration übergreifen und in dieser maaßvoller ihre Accente beanspruchen müssen. Der Totalcharakter bleibt Gesang. <310> Zuweilen ist der Inhalt solcher Passagen rein figurativ, instrumental, ohne Gesangmomente. In diesem Falle wird die lineare Zeichnung wie früher besonders in den Punkten, wo zwei Linien sich treffen, durch Accentuation klar zu machen sein, wie z.B. im Larghetto von Hummel Op. 18 im neunten Takte:

[Notenbeispiel S. 310, Nr. 1: Hummel, op. 18 (1)]

und ferner im 14. Takte, wo Tiefe und Höhe markirt werden.

[Notenbeispiel S. 310, Nr. 2: Hummel, op. 18 (2)]

Oder die Passage enthält - theils durchweg - theils in Einzelpunkten, namentlich am Ende, gesangliche Momente. In diesem Falle stehen dieselben im Vordergrunde der Bedeutsamkeit und bilden ihren accentlichen Vortrag ganz nach Analogie der Cantilenen, z.B. im 13. Takt:

[Notenbeispiel S. 310, Nr. 3: Hummel, op. 18 (3)]

Hier hat das Ende in es den Hauptaccent, nämlich den singend markirten. Die beiden anderen auf a und g sind figurativ und schwächer.

Oft liegt das Singende versteckter, und der Spieler muß schon tiefer in ächt musikalischem Denken geübt sein, um den gesanglichen Punkt zu finden. So ist z.B. in folgender, dem Finale der Beethoven'schen B-dur-Sonate Op. 22 entlehnten Stelle das oberste c <311> singend zu markiren, da es in das Thema einleitet, während sonst die ganze Passage einen ganz gesanglosen, figurativen, sogar leer figurativen Inhalt hat:

[Notenbeispiel S. 311, Nr. 1: Beethoven, Klaviersonate op. 22 - 3. Satz]

Es ist übrigens bei diesen beiden Beispielen, dem folgenden Kapitel vorgreifend, die Bemerkung hinzuzufügen, daß der singende Ton gleichzeitig angehalten werden muß, und daß dadurch die Schärfe des Accents zuweilen gemilderter sein darf.

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