Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 13 [Seite 16 von 41]

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Oratorium

§. 62. Obigen Gesprächen hat man denn billig vorgezogen

XIV. Das Oratorium, dessen Arten sind

Die Passiones [FN] oder Vorstellungen des Leidens Christi.

In denselben werden entweder durch die Prosopopöie oder Persondichtung, da aus Dingen Personen gemacht werden, die sonst keine sind; oder ohne Verblümung, durch Einführung wircklicher Personen, solche Vorträge gethan, die nicht in einem dürren Gespräch, oder in einer Erzehlung allein, sondern in beweglichen Sätzen von allerhand Art, schöne Gedancken und Erwegungen an den Tag legen; die Gemüther sowol zur Andacht und heiliger Furcht, als auch zum Mitleiden und andern Regungen, vornehmlich aber zum Lobe Gottes und zur geistlichen Freude antreiben; durch Choräle, Chöre, Fugen, Arien, Recitative &. die artigste Abwechselung treffen, und selbige mit verschiedenen Instrumenten, nachdem es die Umstände erfordern, klüglich und bescheidentlich begleiten.

§. 63. Ein Oratorium ist also nichts anders, als ein Sing=Gedicht, welches eine gewisse Handlung oder tugendhaffte Begebenheit auf dramatische Art vorstellet. Die Gemüths=Bewegungen sind hier wiederum, wie man siehet, das vornehmste, worauf der Componist Achtung zu geben hat. Es haben aber die Oratorien, wenn sie geistliche Dinge abhandeln, ein anders und höheres zum Vorwurff, als sonst: nehmlich Gott und seine grosse Thaten, die freilich weit ernsthafftere Ausdrückungen und Gedancken geben, auch wichtigere Wirckungen bey den Zuhörern thun, als die verstellten oder gefärbten Affecten des weltlichen Schauplatzes.

§. 64. "Die Music ziehet den Gottlosen, ja selbst den Gottlosen, zum Tempel; sein Ohr, das vor andern Lehren verstopfft ist, öffnet sich doch den durchdringenden Klängen; bald rühren lauter donnernde Accorde, welche die Lüffte zitternd trennen, einen solchen unheiligen Menschen, erfüllen ihn mit Furcht und Entsetzen; die strenge Harmonie stellet ihm einen lebendigen, schrecklichen, unvermeidlichen Gott vor, der mit flammender Hand, auf den Flügeln des Ungewitters tönend herabfährt, vor welchem tödliche Blitze herfliegen, und dem der Todes=Engel auf dem Fusse nacheilet. In den dräuenden Tonen vernimmt der Gottlose die fürchterliche Annäherung seines Richters; das Rasseln seiner feurigen Wagen; den Sturtz=Fall der lodernden Pechströme; die Abscheuligkeit des schwartzen Abgrundes, und das unwiederrufliche Urtheil seiner Verdarrmiß. Bald weiß hergegen eine sanfftere und erquickende Zusammenstimmung seinem Hertzen <221> die Bangigkeit wiederum zu benehmen, und ein neues Vertrauen zu erwecken: da wird demselben gleichsam in einer Blumen=Wolcke der Vater aller Güte vorgestellet, der bereit zu vergeben ist; dafern der Sünder nur seufzen, und mit Aschen auf dem Haupte durch seine Buß=Thränen das Feuer der sonst ewigen Rache löschen kan."

§. 65. Ich habe mich nicht entbrechen können, diese schöne Stelle von den Wirckungen der Kirchen=Music alhier, aus dem offterwehnten Discours sur l'Harmonie, zu übersetzen und einzuschalten. Uibrigens muß, um zu solcher seligen Wirckung zu gelangen, die Ausdrückung in den Melodien eines Oratorii (welches so viele Abzeichen als Leidenschafften hat) zwar nicht so wild, aber wol so lebhafft, wo nicht lebhaffter seyn, als in Opern: Denn ein Oratorium ist gleichsam eine geistliche Oper und die göttliche Materie verdient es vielmehr als die menschliche, daß man sie nicht schläfrig ausarbeite. Bey Opern ist alles Schertz; In Kirchen ist alles Ernst, oder sollte es doch seyn. Es gibt indessen auch vielerley weltliche Oratorien, die mehr zum Kammer=Styl, als zur dramatischen Schreib=Art gehören, und sich in der Ausarbeitung nach denjenigen Regeln richten, die oben von den Cantaten gegeben worden sind.

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