Nicolai: Musik & Artzneygelahrtheit

§. 32. Warum die Alten die Musik zur Erziehung gebraucht haben.

Ich will mich nun bemühen kürtzlich zu erklären, warum die Alten die Alten ? die Musik zu so verschieden Absichten <69> gebraucht haben. Wenn man junge Leute wohl erziehen will, so hat man die Absicht sie geschickt zu machen, daß sie gewisse Handlungen in ihrem Leben öfterer und mit grösserer Lust vornehmen, andere aber seltener oder gar nicht. Folglich muß man das Gemüth mit solchen Triebfedern versehen, die sie hierzu antreiben und gerade von der Beschaffenheit sind die Affecten. Es ist also weiter nichts nöthig, als daß man, nachdem gewisse Handlungen öfterer sollen ausgeübet werden, solche Gemüths-Bewegungen sehr ofte hervorzubringen suchet, welche die Gründe die verlangten Handlungen zu wircken in sich enthalten. Die Musik kan Gemüthsbewegungen erregen, und eine leichter als die andere, wenn sie darnach eingerichtet und die Person mehr zu dieser als einer andern Leidenschaft, aufgelegt ist. Darf man sich also wundern, daß man die Musik zur Auferziehung der Jugend gebraucht hat? Ferner so kan man öfters aus gewissen Handlungen die Triebfedern derselben, ich meine die Affecten entdecken, woher sie gerühret sind und wer weiß, ob die Alten dieses nicht wohl verstanden haben. Die Handlungen sind entweder wohl anständig und löblich gewesen, oder nicht. Sind sie es gewesen, so haben sie nur durch ihre Musik diejenige Leidenschaft, woher sie entstanden sind, öfterer hervorbringen und unterhalten <70> dürfen. Sind sie es aber nicht gewesen, so haben sie weiter nichts zuthun gehabt, als denselben Affect, welcher in diese Handlungen seinen Einfluß gehabt hat, in Ruhe zu lassen und einen entgegengesetztgen oder andern hervorzubringen. Man weiß ja, daß es grössere Schwierigkeit macht, eine Handlung hervorzubringen, wenn sie in langer Zeit nicht ist ausgeübet worden, und warum sollte es mit den unanständigen Handlungen nicht eben dergleichen Beschaffenheit haben? Solchergestalt läßt sich meines Erachtens auch begreifen, wie die Sitten, Gewohnheit und Lebensart der Alten haben verändert werden können, wenn ihre Gesetze in der Musik sind abgeschaft und neue angenommen worden.

ENDE.