Riemann: Klavierschule op. 39,1

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§ 6. Dynamik.

<23> Selbstverständlich ist dem Anschlag aus dem Fingergelenk allein nicht eine so grosse Kraftentfaltung möglich wie dem Staccato-Anschlag aus dem Ellenbogengelenk; wohl aber ist es möglich, den Fingerdruck durch Mitwirkung der Muskulatur des Armes zu verstärken: nur dadurch wird ein wirkliches vollsaftiges Forte für das Legato möglich. Damit ist zugleich ausgesprochen, dass das Crescendo eine zunehmende und das Decrescendo eine abnehmende Betheiligung des Armdrucks unbedingt erfordert. Es ist eines der wichtigsten Ziele der technischen Studien, diese Übergänge derart einzuüben, dass sie ohne Zwang und ohne bewusste Disposition ganz mechanisch vor sich gehen. Zur Erzielung grösserer Tonstärke ist die Benutzung des rechten Pedals (Hauptpedals) eine wesentliche Unterstützung; für besonders zarte Klangeffekte ist der Gebrauch der Verschiebung resp. bei Tafelklavieren und Pianinos der Dämpfung erfolgreich. Doch ist es entschieden zu tadeln, wenn manche Virtuosen für jedes Piano die Verschiebung anwenden; das verschwindendste Pianissimo muss auch ohne Verschiebung oder Dämpfung beherrscht werden, letztere erzielt eine Veränderung der Klangfarbe und ist Effekt wie die Sordinen der Streichinstrumente oder wie die gestopften Horntöne [FN].

An verschiedenen Stellen [FN] habe ich darauf hingewiesen, dass nicht Accentuirung, sondern Crescendo und Decrescendo die natürlichen Elementarformen der musikalischen Dynamik sind, und auch da (natürlich innerhalb enger Grenzen) zur Anwendung zu bringen sind, wo der Komponist eine gleichbleibende <24> Tonstärke vorschreibt [FN] (sempre p, sempre f etc.). Hat man diese Erkenntniss gewonnen, so erscheinen die Übungen im Schattiren der Tonstärke viel wichtiger, als man bisher angenommen zu haben scheint. Wenigstens finde ich nicht, dass die Schulen hinreichend Gewicht auf dieselben gelegt haben. Hier kann ich wieder aus meiner Erfahrung berichten, dass die Schüler mit einem Schlage einen grossen Fortschritt machten, wenn ich ihnen die Bedeutung der durchgehenden Schattirungen klar machte. Das Spiel gewann,dadurch in ganz kurzer Zeit viel mehr Wärme und Ausdruck. Aus diesem Grunde nahm ich in meinem Lehrplan dynamische Studien in grösserer Ausdehnung auf, die ich den elementaren Geläufigkeitsstudien systematisch einordnete. Da die Erfahrung lehrt, dass nur sehr wenige besonders gewissenhafte Schüler auf allgemeine Bemerkungen hin gründliche Übungen machen, während gerade die begabteren oft genug nicht die gewissenhaftesten sind, so glaubte ich für die dynamischen Studien eine Anzahl Übungsbeispiele besonders anschaulich ausschreiben zu müssen, um deren Bedeutung immer wieder in die Augen springen zu lassen. Die "technischen Studien" seien daher auch nach dieser Richtung ganz besonders empfohlen.

Über die rechte Verwendung der dynamischen Schattirungen sind in dem Kapitel Phrasierung (§ 11.) die näheren Details gegeben. Da die dort entwickelten Prinzipien bereits ein ziemlich entwickeltes Auffassungsvermögen voraus setzen, so ist mit ihrer eingehenden Erklärung zu warten, bis der Schüler dazu gelangt, die leichteren Beethoven'schen Sonaten zu spielen. Es ist Sache des Lehrers, zu beurtheilen, wieviel davon er dem Schüler vorher allmählich beibringen kann, nur hüte er sich, des Auffassungsvermögen zu überschätzen, da allzuviel Neues und Komplizirtes auf einmal nur verwirrend wirken kann. Unerlässlich ist es freilich, das der Schüler bei Zeiten die verschiedene dynamische Bedeutung <25> der volltaktigen und auftaktigen Bildungen kennen lernt, damit er nicht gegen sein besseres Empfinden in geist- und ausdrucksloser Weise zu spielen gezwungen werde.

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