Riemann: Klavierschule op. 39,1

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§ 7. Fingersatz.

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<25> Vorbedingung für ein glattes und sicheres Spiel ist die Wahl der rechten Applikatur (Fingersetzung). Es ist Aufgabe der Schule, durch Aufstellung einfacher allgemeiner Gesetze und durch Einübung an typischen Figuren eine solide Basis für die Fingersetzung zu schaffen, welche es vermöglicht, ohne Nachdenken gleichsam instinktiv die rechten Finger zu wählen. Ganz verkehrt ist das Verfahren mancher Lehrer, auch bei vorgerückten Schülern, die schon Sonaten von Mozart oder Beethoven spielen, noch jeden Finger überzuschreiben und solcher Gestalt die Notenhefte in einer gräulichen Weise zu beschmieren. Wer seine Schüler nicht anders auf die rechten Wege der Fingersetzung zu bringen weiss, hat zum Klavierlehrer keinen Beruf. [FN]

Das natürlichste und einfachste Prinzip der Fingersetzung ist, neben einander liegende Tasten durch neben einanderliegende Finger anzuschlagen; doch zwingt die beschränkte Zahl der Finger, für längere Tonreihen zu Mitteln Zuflucht zu nehmen, welche die Reihe der Finger verlängern. Nach der Seite des kleinen Fingers hin geschieht das in erster Linie durch Untersetzen des Daumens unter einen der längern Finger, nach Seite des Daumens durch Überschlagen eines der längern Finger über den Daumen. [FN] In beiden Fällen wird die Hand durch den untergesetzten oder übergeschlagenen Finger verschoben; um jedoch den gewaltsamen Ruck zu vermeiden, welchen das Tragen der Hand durch den Finger verursachen müsste, treten besser die Muskel des Armes in Mitthätigkeit und verschieben ihrerseits die Hand und den Unterarm, während die Veränderung der Fingerstellung vor sich geht. Es ist also bei der Manipulation des Untersetzens und Überschlagens vor allem genau Obacht zu geben, dass der Schüler nicht dem betreffenden Finger die Last der zu versetzenden <26> Hand aufbürde, sondern ein ungestörtes gleichmässiges Weiterspiel dadurch ermögliche, dass er die Hand durch den weiter geschobenen Arm leicht seitlich forttragen lässt. Bei schnellerm Spiel ist es sogar unerlässlich, dass die Seitwärtsschiebung der Hand eine kontinuirliche und nicht erst im Moment des Überschlagens oder Untersetzens eintretende sei; denn sonst würde immer noch ein Ruck die Glätte des Spiels gefährden. Dieses Forttragen der Hand muss auch da stattfinden, wo durch das Handgewicht die Anschlagsstärke vergrössert werden soll. Denn der Fingeranschlag soll durch vergrösserte Last eine Unterstützung erhalten, nicht aber vermehrte Arbeit und vermehrten Kraftaufwand. Seltener, nur in polyphoner Musik (Fugenspiel) häufig, kommt statt des Überschlagens und Untersetzens das Einsetzen [FN] eines der längeren Finger nach einem andern weiter dem kleinen zu gelegenen vor, z.B.

1 2 3 4 3 4 (rechte Hand)
g a h c' d' e'

oder

1 2 3 4 3 4 (linke Hand)
a g f e d c

Bei dieser Fingerfolge findet ein eigentliches Überschlagen nicht statt (dasselbe wäre kaum möglich), vielmehr wird nach dem Anschlage des vierten Fingers die Hand schnell zur Seite geschoben, sodass der dritte frei anschlagen kann, ähnlich wie beim wiederholten Anschlag derselben Taste.

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