Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 11 [Seite 7 von 12]

Nun kommen aber auch Fälle vor, wo der Komponist die Zähleinheiten nicht richtig bezeichnet hat und zwar zufolge gewisser Eigenthümlichkeiten im Gebrauch der Taktvorzeichnung. Eine ziemlich grosse Zahl von Taktarten werden ihrer wahren Bedeutung nach nicht vorgezeichnet, treten vielmehr mit einem Zeichen auf, das eigentlich etwas anderes bedeutet, nämlich: 4/8 stets als 2/4 vorgezeichnet; 6/8 (6/4) zu zwei und zwei Achteln (Vierteln), stets als 3/4 (3/2) vorgezeichnet. Auch wird umgekehrt 6/8 und 6/4 (also 6 Zähleinheiten) vorgezeichnet, wo thatsächlich nur 2 gezählt werden soll; im letztern Falle hilft man sich hie und da durch ein [alla breve], welches hinter das 6/4 Zeichen eingeklammert gestellt wird. Auch 9/9 und 12/8 finden sich regelmässig vorgezeichnet, wo drei resp. vier zu zählen ist. Noch schlimmer und kaum seltener ist es, dass die Taktvorzeichnung so gewählt wird, dass nach ganzen Takten gezählt werden muss, z.B. bei sehr geschwindem 3/4 oder 3/8 Takt, wo correct je zwei Takte zusammen gezogen würden und eine zweitheilige Taktart vorgezeichnet. Zur endgültigen Beseitigung dieser Übelstände habe ich an anderer Stelle vorgeschlagen, [FN: "Musikalische Dynamik und Agogik" (Hamburg, bei D. Rahter, 1884) S. 40 ff. und in einem Aufsatz im "Klavierlehrer" (1885).] stets die Zähleinheiten vorzuzeichnen und auf eine Vorzeichnung der Notenwerthe (Achtel, Viertel etc. gänzlich zu verzichten. Für meine eigenen Compositionen mache ich seit einiger Zeit ausschliesslich von dieser neuen Vorzeichnungsweise Gebrauch (vgl. mein op. 31 ff.) Das Prinzip ist einfach genug und ohne lange Auseinandersetzung zu begreifen; der Lehrer wird gut thun in Fällen, wo die Taktvorzeichung in dem bezeichneten Sinne falsch ist, am Rande die Zahl der Zähleinheiten anzumerken. Die zur Anwendung zu bringenden Zeichen sind:

2 für 2/1, [alla breve] (2/2), 2/4, 2/8 (wo zwei gezählt wird).
3 für 3/1, 3/4, 3/8 (wo drei gezählt wird).
4 für 4/2 (4/4), 4/8 (wo vier gezählt wird).
2/3 für 6/4, 6/8, 6/16 (wo zwei gezählt wird).
3/3 für 9/4, 9/8 (wo drei gezählt wird).
4/3 für 12/8, (wo vier gezählt wird).
6 (2/3) für 6/4 ,, 6/8 (wo sechs gezählt wird) <53>
6 (3/2) für 3/2, 3/4 (wo sechs gezählt wird).
8 für 4/2 [...], 4/4 (C), (wo acht gezählt wird).
9 für 9/4, 9/8 (wo neun gezählt wird).

Der erste Satz der cis-moll Sonate (op. 27,2) von Beethoven hat die Überschrift Adagio sostenuto und die Taktvorzeichnung Allabreve, d.h. es darf nur 2 gezählt werden. Man überzeuge sich aber, wie wenige Spieler anders als vier zählen, weil sie beim 12/8 Takt das vier Zählen gewohnt sind. Denn die fortlaufenden Triolenarpeggien geben dem ganzen Satz das Aussehen des 12/8 Takts. Hier hat also Beethoven ganz korrekt vorgezeichnet, und wird doch meist falsch verstanden und der Satz unnatürlich verschleppt. Manchmal ist aber auch seine Vorzeichnung nicht zuverlässig. Ganz unthunlich wäre das der Vorzeichnung C entsprechende Zählen nach Vierteln beim einleitenden Largo des letzten Satzes der grossen Sonate op. 106, bei der übrigens die von Beethoven selbst gegebene Metronomisierung Sechzehntel = 76 darauf hinweist, dass nach Sechzehnteln, d.h. dass 16 gezählt werden soll.

Statt der oben entwickelten Taktbezeichnungen habe ich in neueren Phrasierungsausgaben einige noch anschaulichere angewandt, nämlich 2 [punktiert Halbe], 2 [punktierte Viertel], 2 [punktierte Achtel] für 6/4, 6/8 und 6/16 von zwei gezählt wird, und für den sehr häufigen dreitheiligen Takt mit zwei ungleichen Zählzeiten: [Achtel | Viertel] (= 3/8), [Viertel | Halbe] (= 3/4) usw.

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