Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 11 [Seite 8 von 12]

Wie bereits angedeutet, hat jede Phrase nur einen dynamischen Gipfelpunkt, d.h. nur ein einmaliges Crescendo und einmaliges Decrescendo, es sei denn, dass sie von Anfang bis zu Ende nur crescendo oder nur decrescendo gedacht ist. Der dynamische Gipfelpunkt der Phrase ist stets die dynamische Hauptnote (stärkste Note) eines der die Phrase zusammensetzenden Taktmotive. Diese Regel ist zwar zweifellos richtig, erleidet aber einige wohlmotivirte Ausnahmen. Ein ziemlich häufig vorkommender Fall ist die Unterdrückung der dynamischen Hauptnote und ihre Ersetzung durch eine Pause; geht in solchen Fällen die Begleitung fort, so ist doch in der Regel der auf die Stelle der dynamischen Hauptnote fallenden Note der Begleitung nicht soviel Tonstärke zu geben, als die durch die Pause ersetzte Melodienote erhalten würde, es sei denn, der Componist verlangt ausdrücklich durch sf oder f die Ausgabe des vollen Accents. Ein anderer Fall ist die Vorausnahme des dynamischen Gipfelpunkts auf einen der metrischen Hauptzeit vorausgehenden Notenwerth, sei es durch Synkopation, sodass die solchergestalt stärkste Note in den Zeitwerth der metrischen Hauptzeit hinüberreicht, z.B.: <54>

Notenbeispiel S. 54, Nr.

sei es durch die Nothwendigkeit, eine mit Vorhaltsbedeutung der metrischen Hauptnote vorausgehende Nachbarnote, genügend hervorzuheben, z.B.

Notenbeispiel S. 54, Nr. 2

Umgekehrt kann der dynamische Gipfelpunkt weiter hinausgeschoben werden durch einen Aufschwung, den die Melodie direkt nach der metrischen Hauptnote nimmt, z.B.

Notenbeispiel S. 54, Nr. 3

oder

Notenbeispiel S. 54, Nr. 4

oder

Notenbeispiel S. 54, Nr. 5

usw.

Die Componisten unterlassen es selten die dynamischen Höhepunkt der Phrasen anzuzeigen, besonders wenn dieselben verschoben sind. Wo kein crescendo- oder decrescendo-Zeichen, kein f, sf einen Anhalt giebt, ist anzunehmen, dass die dynamische Schattierung mit Steigung und Fall der Melodie in Einklang stehen soll, d.h. dass der dynamische Gipfelpunkt da zu suchen ist, wo <55> die Melodie ihren Gipfel hat; als metrische Hauptnote wird dann also die Anfangsnote desjenigen Taktes anzusetzen sein, in welchem die melodische Steigung ihren Höhepunkt erreicht.

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