Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 11 [Seite 10 von 12]

Dass die Lehre der musikalischen Metrik (Rhythmik) bisher ziemlich vernachlässigt wurde, und dass das Ablesen von Taktstrich zu Taktstrich desto mehr überhand genommen bat, je mehr die Herausgeber das Auge durch mit dem Taktstrich abschneidende Bögen irreleiteten, die nur für Streichinstrumente als Zeichen für den Strichwechsel Sinn haben, ist von verschiedenen Männern von scharfem Urtheil und Beobachtungsgabe hinreichend betont worden. Es wird das aber nicht eher besser werden, als bis wir durch neue Zeichen jene Hemmnisse der rechten Auffassung überwunden haben. Solche neue Zeichen sollen die Phrasierungsbögen und Lesezeichen sein, wie ich sie gebraucht habe. Die durchgehende Anwendung beider ist kaum nöthig; es wird aber wenigstens solange, bis die Neigung zu jener falschen Auffassung ausgerottet ist, gut sein, sie reichlich anzuwenden - gänzlich aber dürfte man sie oder andere ähnlicher Bedeutung überhaupt nicht wieder aufgeben, wenn man nicht wieder die alten Fehler heraufbeschwören will.

Wie Taktmotive zu Phrasen, so schliessen sich die Phrasen zu Perioden zusammen, doch aber nicht so, dass die Phrase ihre selbständige Dynamik aufgäbe; die Steigerung der Phrasen gegeneinander ist nicht eine durchgehende, wie die der Taktmotive in der Phrase. Soll eine Phrase gegen die vorausgehende gesteigert erscheinen, so wird das gewöhnlich durch cresc. angedeutet, wenn es nicht aus der melodischen Bedeutung schon deutlich genug hervorgeht. Die gesammte Tongebung ist dann für die betreffende Phrase stärker zu wählen, unbehindert einer ganz regulären Abschattierung derselben nach den allgemeinen Grundsätzen; man muss sich hüten, immer wieder auf dasselbe Niveau der Tonstärke herabzukommen, wenn nicht die Composition in eine Reihe kleiner <57> ungenügend zusammenhängender Bruchstücke zerfallen soll. Grosse Züge, eine fortreissende Entwickelung, langathmige Steigerung werden nur gewonnen, indem man die Phrasen wohlweislich gegen einander abstuft, eine mehr oder minder grosse Zahl derselben als zusammengehörig zu einer Periode erkennt, und herauszufinden sucht, welche von ihnen als der Gipfelpunkt erscheint, bis zu dem zu steigern und von welchem aus abzunehmen, nachzulassen ist. Es ist wiederum Beethoven, der in dieser Hinsicht das grösste geleistet hat und das grösste fordert; man wird den Intentionen dieses Riesengeistes nur gerecht, wenn man immer weitere Kreise zu ziehen, immer grössere Theile des Werkes mit einem Blicke zu überschauen und demgemäss zu interpretieren sucht.

Beim Zusammenfassen der Phrasen zu Perioden hat man vor allem zu unterscheiden, ob einander folgende Phrasen zu einander kontrastiren, ob sie ein ähnliches Verhältniss wie Vordersatz und Nachsatz zu einander bilden, oder aber, ob ihrer eine grössere Anzahl wie coordinierte Vordersätze einem später folgendem Nachsatze gegenüberstehen; im ersten Falle werden bereits die beiden Nachbarphrasen Steigerung und Minderung aufweisen und es wird etwa eine nachfolgende ähnliche Gruppe die Steigung zu vergrössern und gleich von etwas gesteigerter Tonstärke auszugehen haben; im zweiten Falle wird dagegen die Steigerung von Phrase zu Phrase fortzugehen haben bis zum Eintritt des Nachsatzes (der Folgerung aus den Prämissen), der in der Regel mit der grössten Tonstärke einsetzt und schnell abnimmt. Die Steigerung wie die Minderung wird sich in der Regel gleichmässig auf die Tonstärke wie das Tempo zu erstrecken haben, darf jedoch bei letzterem niemals auch nur annähernd solche Dimensionen annehmen wie bei der Tonstärke; denn aus piano darf durch die Steigerung zwar forte werden, aus adagio aber niemals andante oder gar allegro.

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