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Czerny: Briefe über den Unterricht ...

Vierter Brief.

(Drey Monathe später.)

Über Vortrag und Verzierungen.

<28> Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt, mein fleissiges Fräulein, dass das eifrige Exerzieren aller Fingerübungen, so wie das schnelle Einstudieren vieler Tonstücke Sie recht bald vorwärts bringen würde? Sie schreiben mir, dass Ihre Finger bereits eine recht bedeutende Fertigkeit und Sicherheit erlangt haben; dass Sie nun schon Tonstücke von mehr Gehalt, Umfang und Schwierigkeit einzustudieren anfangen; dass Sie sogar schon im Stande sind, leichte Stückchen zum erstenmal, vom Blatte weg, verständlich und ohne Unterbrechung auszuführen; und dass auch die Tonarten mit vieler Vorzeichnung Sie nicht leicht mehr in Verlegenheit bringen. Erlauben Sie mir die Versicherung, Fräulein, dass ich von Ihrem Fleiss und Talent und von der zweckmässigen Bemühung Ihres braven Lehrers nicht weniger erwartete.

Sie sind jetzt in der Epoche, wo die Kunst anfangt, ein wahres, edles und geistiges Vergnügen <29> darzubiethen, und wo die immer neuen und schönern Compositionen, die Sie nun kennen lernen werden, Ihnen einen Begriff von dem Reichthum und der Mannigfaltigkeit der Tonkunst geben können.

Aber Fäulein, versäumen Sie ja darüber nicht die Fingerübungen, und vorzüglich die Scalen in allen Tonarten noch immer mit gleichem, ja noch vermehrtem Eifer fortzuüben. Der Nutzen dieser Hilfsmittel geht ins Unendliche, und besonders die diatonischen und chromatischen Tonleitern haben gewisse Eigenschaften, an welchen selbst der geübteste Spieler noch zu studieren hat.

Ferner bitte ich Sie ernstlich, über dem Einstudieren neuer Tonstücke ja die ältern, bereits erlernten nicht zu vergessen.

Das Neue nützt wenig, wenn man darüber das Alte verlernt.

Denn die Geschicklichkeit und Geübtheit der Finger, der Augen und des Gehörs muss fest und gründlich auf den bereits gemachten Erfahrungen ruhen, während sie durch neue Kenntnisse vermehrt und fortgebildet wird. Wenn Sie z.B. ein Tonstück, zu dessen Erlernung Sie 3 Wochen nöthig hatten, später wieder vergessen, so sind diese 3 Wochen so gut wie verloren.

Sie müssen daher auch alle jemals erlernten Tonstücke eigenthümlich besitzen, wohl <30> aufbewahren, und niemals ausleihen oder weg geben.

"Ja," sagen Sie, "wenn es nur nicht so viel Zeit raubte, nebst dem Einstudieren neuer Stücke die alten noch immer fortzuüben!"

Fräulein, Sie glauben nicht, was man, bey geschickter Benützung der Zeit, alles im Tage verrichten kann. Wenn Sie, bey Ihrem entschiedenen Willen, es auf dem Fortepiano recht weit zubringen, demselben täglich nur 3 Stunden widmen, wovon ungefähr eine halbe Stunde den Uebungen, eben so viel dem Durchspielen alter Tonstücke, und die übrige Zeit dem Einstudieren der neuen Compositionen zugetheilt wird, so reicht das sicher hin, nach und nach eine recht bedeutende Stufe zu erreichen, ohne desshalb Ihre übrigen Beschäftigungen zu versäumen.

Ihr Lehrer hat Sie bereits angewöhnt, die Vortragszeichen (forte, piano, legato, staccato u.s.w.) im Allgemeinen zu beobachten. Je mehr Sie anfangen, alle mechanischen Schwierigkeiten des Fortepianospiels zu überwinden, desto mehr Aufmerksamkeit müssen Sie diesem wichtigen Gegenstande, (dem Vortrage) widmen.

Ausdruck, Gefühl und Empfindung sind die Seele der Musik, so wie jeder Kunst. Wenn man ein Tonstück stets mit gleicher Stärke, oder gleicher Mattigkeit vortragen würde, so klänge <31> das eben so lächerlich, wie wenn man ein schönes Gedicht mit dem Tone vorlesen wollte, mit welchem man das Einmaleins aufsagt.

In jeder Composition sind die Zeichen des Ausdrucks, (f, p, cres., dim., legato, staccato, acceler. ritard., u.s.w.) so genau vom Tonsetzer bezeichnet, dass der Spieler nie im Zweifel seyn kann, was er stark oder schwach, wachsend oder abnehmend, gebunden oder gestossen, beschleunigend oder zurückhaltend vortragen soll.

Dieselbe Genauigkeit, mit welcher Sie die Noten, die Versetzungszeichen, den Fingersatz, den Takt beobachten müssen, haben Sie auch auf alle Vortragszeichen anzuwenden.

Aber das Schwierige bey der Sache ist, stets das rechte Maass bey jedem Vortragszeichen zu beobachten; denn Sie wissen bereits, dass es eine Menge Grade und Abstufungen von forte, piano, legato, staccato, acceler. und ritardando gibt.

Das stärkste Fortissimo darf nie in Schlagen und Hacken, und in eine Misshandlung des Instruments ausarten.

Eben so darf das leiseste Pianissimo nie undeutlich und unverständlich werden. Sie besitzen ein vortreffliches Fortepiano von einem unserer besten Meister, und Sie werden bereits bemerkt haben, dass der leiseste Nachdruck, den der Finger einer Taste gibt, schon eine <32> merkbare Aenderung und Schattirung im Tone hervorbringt, und dass man sehr kräftig spielen kann, ohne sich desshalb übermässig anzustrengen, oder mit der Hand, dem Arm, der Achsel und dem Kopfe unnöthige und lächerliche Bewegungen zu machen. Denn leider haben manche, selbst recht gute Pianisten, in dieser Hinsicht gewisse Unarten, vor denen ich Sie, liebes Fräulein, warnen muss.

So haben Viele die hässliche Gewohnheit, bey jedem Tone, den sie mit Ausdruck anschlagen, den Handknöchel aufzuheben, so dass die Hand, wie ein unruhiges Wasser, Wellen schlägt.

Andere suchen ihr Gefühl durch weit ausgespreitzte Elbogen zu beweisen, oder sie machen bey jedem Takte mit Kopf und Oberleib ein tiefes Compliment, als ob sie ihrem eignen Spiel Ehrfurcht bezeigen wollten. Noch andere reissen nach einer jeden kurzen Note die Hand so weit von den Tasten weg, als hätten sie ein glühendes Eisen berührt. Manche machen beym Spiel ein grimmiges, andere wieder ein süssliches Gesicht u.s.w.

Eine der schlimmsten Unarten ist das Uebertreiben des Ritardando und Accelerando, so dass man oft Minutenlang nicht weiss, ob das Tonstück im 3/4 oder 4/4 Takt geschrieben ist. Diess macht ungefähr dieselbe Wirkung, als ob man <33> jemanden in einer fremden, ihm unverständlichen Sprache anreden würde.

Alles dieses kann man sich im Eifer des Exerzierens angewöhnen, ohne es selber zu wissen, und wenn man dann einmal, zu seiner Beschämung, darauf aufmerksam gemacht wird, so ist es oft schon zu spät, um es sich wieder völlig abzugewöhnen.

Uebrigens glauben Sie ja nicht, dass man beym Fortepiano so steif und kalt wie eine Holzpuppe sitzen soll. Es gibt anständige Bewegungen, die beym Spiel nothwendig sind. Nur die Uebertreibung muss vermieden werden.

Wenn man mit beyden Händen in den höchsten oder tiefsten Octaven zu spielen hat, so ist ein ruhiges Hinneigen des Oberleibs eben so nöthig als schicklich. Wenn man schwierige Passagen, kurze kräftige Accorde oder Sprünge auszuführen hat, so können und müssen die Hände sich auch eine angemessene Bewegung erlauben. Da man bald die Noten, bald die Hände anblicken muss, so ist dabey eine kleine Bewegung des Kopfes, wo nicht nothwendig, doch verzeihlich. (Jedoch müssen Sie sich angewöhnen, mehr in die Noten als auf die Finger zu sehen.)

Aber der Anstand des gebildeten Lebens muss immer auch auf die Kunst übertragen werden, und überhaupt gilt die Regel, dass jede Bewegung, welche zum bessern Spielen wirklich <34> und entschieden beyträgt, auch erlaubt ist, wogegen man alles Unnöthige und Ueberflüssige vermeiden muss.

Jetzt wäre es noch zu früh, Sie auf gewisse feinere Regeln des Ausdrucks aufmerksam zu machen. Dagegen bitte ich Sie einstweilen um die genaueste Beachtung alles dessen, was jeder Tonsetzer in seiner Composition hierüber anzeigt, und trachten Sie jedes Tonstück in dem vom Autor bezeichneten Zeitmaass, (wozu das Mälzel'sche Metronom bey neuern Compositionen die besten Dienste leistet,) rein und fliessend vorzutragen.

Die Verzierungen, (nähmlich die Triller, Mordenten, Schneller, Vorschläge u.s.w.) sind die Blumen der Musik, und deren richtiger, zarter und deutlicher Vortrag verschönert und hebt jede Melodie und jede Passage.

Aber steif, hart oder undeutlich vorgetragen, kann man sie dagegen eher den Tintenklecksen und Schmutzflecken vergleichen.

Vorzüglich wichtig ist der Triller, und für den Pianisten ist der schöne, gleiche und geschwinde Vortrag desselben eben so sehr Pflicht und Zierde, wie die gleiche perlende Scala. Auch muss er, wenigstens in der rechten Hand, mit allen Fingern gleich gut gehen. Die Gleichheit des Trillers kann nur dadurch erreicht werden, wenn man beyde Finger gleich hoch hebt, und die Tasten mit gleicher Kraft anschlägt. Sie <35> müssen der Uebung desselben täglich besonders einige Minuten widmen.

Die dazu nöthigen Beyspiele finden Sie sowohl in der Clavierschule, wie in sehr vielen Tonstücken.

Also, Fräulein, beharren Sie bey Ihrem bisherigen Fleisse und zählen Sie stets auf den bestgemeinten Rath

Ihres

etc. etc.

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