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Czerny: Briefe über den Unterricht

Fünfter Brief.

(Zwey Monathe später.)

Über die Tonarten, so wie über das Einstudieren und Produzieren.

<36> Sie haben nun alle 24 Tonarten, nebst ihren Scalen und Accorden kennen gelernt, und mit Vergnügen vernehme ich, dass Sie alle Tonleiter und Passagen in denselben jetzt eben so fleissig, wie früher in den 12 Dur-Tonarten, täglich durchüben, und dass Sie selbst den vielseitigen Nutzen dieser Uebungen anerkennen, durch welche Sie sich auch das Studieren so mancher andern langweiligen Etuden ersparen.

Eine der nöthigsten Eigenschaften des Pianisten ist: in allen Tonarten gleich gut eingeübt zu seyn. Es gibt Viele, welche vor einem, mit 4 oder 5# oder b vorgezeichnetem Tonstücke so zurückschrecken, als ob sie ein Gespenst erblickten. Und doch sind alle Tonarten für die Finger im Grunde gleich schwer: denn es gibt in C dur eben so schwierige Compositionen, wie in Cis dur. Nur das Auge und das Gedächtniss muss sich an diese grose Zahl von Versetzungszeichen bey Zeiten gewöhnen.

<37> Da übrigens bey solchen seltenen Tonarten vorzüglich die Obertasten gebraucht werden, welche etwas schmäler und folglich unsichrer zu greifen sind, so bedarf es allerdings von Seiten des Spielers einer besonders festen, etwas höher über den Tasten gehaltenen Hand, und eines sehr bestimmten Anschlags, um auf denselben die nähmliche Sicherheit zu erlangen, wie auf den Untertasten.

Sie beklagen sich, Fräulein, dass Ihnen das Einstudieren schwererer Tonstücke noch immer viele Mühe und Zeit kostet. Es gibt aber dagegen ein gewisses Mittel, welches ich die Kunst des Einstudieren nennen möchte, und welches ich Ihnen hier, so weit es schriftlich möglich ist, mittheilen will.

Es gibt Schüler, welche solche Compositionen zwar aufmerksam, aber auch so langsam und abgebrochen einstudieren, dass diese Tonstücke ihnen zuwider und langweilig werden, noch ehe sie derselben zur Hälfte mächtig sind. Solche Schüler bedürfen oft eines halben Jahrs, um nur einige Stücke leidlich zu erlernen, und durch diese Zeitvergeudung bleiben sie stets zurück.

Andere wollen dagegen die Sache mit Gewalt überwinden, und glauben, durch stundenlanges, anstrengendes, aber zerstreutes und gedankenloses Exerzieren, durch unzähliges, aber übereiltes Durchspielen aller Schwierigkeiten <38> sogleich mächtig zu werden. Diese spielen bis ihre Finger lahm werden; aber wie? verworren, übereilt, ausdrucklos, oder (was noch schlimmer ist,) mit falschem Ausdruck.

Allem diesem kann man entgehen, wenn man dabey zwischen beyden Arten das rechte Maass hält.

Wenn Sie demnach ein neues, etwas schwieriges Stück zu lernen anfangen, so müssen Sie die ersten Stunden darauf verwenden, im langsamen Tempo die Noten genau und richtig zu entziffern, den Fingersatz festzustellen, und eine allgemeine Uebersicht über das Ganze zu erhalten. Dieses kann bey einem einzelnen Stücke höchstens einige Tage dauern. Hierauf wird das Ganze ruhig, gelassen, aber aufmerksam und ohne Zerstreuung so oft durchgespielt, bis man es ohne Mühe in dem, vom Autor bezeichneten Zeitmaass, vorzutragen vermag.

Einzelne grössere Schwierigkeiten können dabey auch insbesondere geübt werden; doch muss man sie eben so oft im Zusammenhang wiederholen. Auch dieses Alles kann in einigen Tagen vollbracht seyn. Aber jetzt erst fangt die Zeit an, wo man es auch schon zu spielen lernen muss.

Nun muss jedes Zeichen des Vortrags mit doppelter Aufmerksamkeit beachtet, und auch daran gedacht werden, den Charakter des Tonstücks <39> richtig aufzufassen, und nach seinem Totaleffekt wieder zu geben.

Hiezu gehört die sehr wichtige Eigenschaft, dass der Spieler sich selbst gut zuzuhören, und seinen eigenen Vortrag zu beurtheilen wisse. Wer diese Gabe nicht besitzt, der verdirbt beym Alleinspielen alles das wieder, was er in Gegenwart des Lehrers sich richtig angewöhnt hat.

Aber noch einmal muss ich Sie erinnern, Fräulein, dass man nur dann neue Tonstücke schnell und gut einstudieren kann, wenn man die alten, bereits früher Erlernten, niemals vergisst. Es gibt leider viele Schüler, (und auch Schülerinnen, liebes Fräulein,) welche nur das Eine Stück gut spielen, welches sie eben gelernt haben. Alles früher Erlernte geht unterdessen verloren. Solche Schüler werden nie grosse Fortschritte machen. Denn Sie werden zugeben, Fräulein, dass derjenige gewiss weit geschickter ist, welcher 50 Stücke gut spielt, als derjenige, welcher wie ein Singvogel nur 2 oder 3 Stücke ordentlich vorzutragen weiss. Und dass das Erste, bey guter Eintheilung der Zeit, recht wohl möglich ist, habe ich Ihnen, wie ich glaube, schon gesagt.

Ihr würdiger Lehrer hat sehr wohl gethan, dass er Sie bey Zeiten nöthigte und angewöhnte, bisweilen vor Zuhörern zu spielen. Anfangs kam es Ihnen, (wie Sie mir schreiben,) recht <40> sauer an, und Sie hatten dabey recht viele Furcht. "Aber jetzt," sagen Sie, "mache ich mir gar nichts daraus, ja es macht mir meistens recht viel Freude, besonders wenn es gut ausfällt." Und da haben Sie ganz recht. Wozu lernt man denn, als um nicht nur sich selbst, sondern auch seinen lieben Eltern und werthen Freunden Vergnügen zu machen? Und gewiss gibt es keinen schönern Genuss, als wenn man sich auch vor einer grössern Gesellschaft auszeichnen kann, und eine ehrenvolle Anerkennung seines Talents und Fleisses erhält. Allein um es so weit zu bringen, muss man seiner Sache recht gewiss seyn: denn das Misslingen ist dagegen eben so ärgerlich als beschämend und quälend. Vor Allem müssen Sie hiezu solche Compositionen wählen, welche Sie völlig in Ihrer Macht haben, und über deren gute Wirkung Sie keinen Zweifel haben können.

Jedes schwierige Tonstück wird doppelt schwer, wenn man es vor Zuhörern vorträgt, weil die natürliche Befangenheit des Spielers die freye Entwicklung seiner Geschicklichkeit hindert.

Manche halb ausgebildete Spieler glauben ihre Sache recht gut zu machen, wenn sie sogleich mit der schwierigen Composition irgend eines berühmten Tonsetzers auftreten. Allein sie erweisen damit weder der Composition, noch sich selbst eine Ehre, sondern setzen sich nur <41> der Gefahr aus, Langeweile zu erregen, höchstens aus Höflichkeit und Mitleiden applaudirt, und dafür hinterm Rücken getadelt und ausgelacht zu werden. Denn selbst bey anspruchslosen Dilettanten bedienen sich die Zuhörer ihres Rechts: zu tadeln, wenn man ihnen kein Vergnügen gemacht hat; und wer kann es im Grunde denselben übel nehmen?

Viele, sonst recht geschickte Spieler haben auf diese Weise durch eine unpassende Wahl des Tonstücks sowohl ihren musikalischen guten Ruf, wie auch ihre Zuversicht verloren.

Beym Produzieren müssen Sie vorzüglich trachten, das wohleinstudierte Tonstück mit Ruhe, Fassung, ohne Uebereilung, ohne Zerstreuung, und vorzüglich ohne stecken zu bleiben, vorzutragen, denn dieses Letzte ist der unangenehmste Fehler, den man vor Zuhörern begehen kann. Die Finger sind vor dem Anfange recht warm zu halten, jede unbequeme Kleidung zu vermeiden, und Sie müssen, wo möglich, stets auf einem Ihnen wohl bekannten Fortepiano spielen.

Denn ein Instrument, welches entweder viel leichter, oder viel schwerer geht, als jenes worauf man gewohnt ist, kann den Spieler sehr in Verlegenheit bringen.

Aber nebst dem wirklichen Produzieren können Sie sehr oft in den Fall kommen, plötzlich in einer Gesellschaft guter Bekannten zum <42> Vortrag irgend einer Kleinigkeit aufgefordert zu werden.

Es ist daher sehr nothwendig, Fräulein, dass Sie eine gute Anzahl kleiner, leichter, aber geschmackvoller Stücke stets gut einstudiert im Gedächtniss haben, um dieselben bey solchen Gelegenheiten auswendig vorzutragen: denn es sieht ein bischen kindisch ans, wenn man wegen jeder Kleinigkeit erst in seiner Notensammlung herumsuchen muss, oder gar wenn man an fremden Orten sich stets mit der Entschuldigung zurückzieht: "man wisse Nichts auswendig." Ich wette, Fräulein Cäcilie, dass Sie schon oft in diesem Falle gewesen sind, nicht wahr?

Zu diesem Zwecke sind kurze Rondo's, hübsche Themas mit einer Variation, Melodien aus Opern, ja selbst auch Tanzstücke, Walzer, Quadrilles, Märsche u.a.m., vollkommen passend; denn Alles macht dem Spieler Ehre, was er schön spielt.

Da es so schicklich ist, jedem Tonstücke ein kleines Vorspiel (Prelude) vorangehen zu lassen, so müssen Sie auch von dieser Gattung eine Anzahl in allen Tonarten auswendig vollkommen inne haben. Sowohl in meiner Clavierschule, so wie in vielen Sammlungen solcher Vorspiele finden Sie hiezu alle nöthigen Mittel.

Das Produzieren hat auch noch den grossen Vortheil, dass es zu einem viel eifrigeren Studieren nöthigt. Denn die Idee, vor Zuhörern <43> spielen zu müssen, spornt zu einem weit grössern Fleisse an, als wenn man immer nur sich selbst, oder den leeren vier Wänden vorspielt.

Daher, mein Fräulein, schliesse ich diesen Brief mit der Bitte, dass Sie keine schickliche Gelegenheit ablehnen, wo Sie Ihr schönes Taleut auch der Welt zeigen können, und verbleibe

etc. etc.

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