Übersicht Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in:
Die Befreiung der Musik. Eine Einführung in die Musik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von F. X. Ohnesorg. Köln (MusikTriennale/Lübbe) 1994. S. 119-131.

Warum diese Töne?

Skandal und Provokation in der Musik

FROSCH: Will keiner trinken? Keiner lachen?
Ich will euch lehren Gesichter machen!
Ihr seid ja heut wie nasses Stroh
Und brennt sonst immer lichterloh.
BRANDER: Das liegt an dir; du bringst ja nichts herbei,
Nicht eine Dummheit, keine Sauerei.
FROSCH: (gießt ihm ein Glas Wein über den Kopf)
Da hast du beides!
BRANDER: Doppelt Schwein!
FROSCH: Ihr wollt es ja, man soll es sein.

J.W. VON GOETHE: Faust I, Auerbachs Keller

(1) Über die Notwendigkeit des Skandals

Die Zeiten, da es bloß einer Dummheit und Sauerei bedurfte, um einen Skandal zu erzeugen, sind vorbei. Die Apokalypse und der Skandal sind in unserem medienvernetzten globalen Dorf längst alltäglich geworden, und wie sich die Schlagzeilen der Boulevard-Blätter nach spätestens einem Tag abgenutzt haben, sind wir mittlerweile auch abgestumpft gegen das Ungeheuerliche der Weltläufte.

Ist das verlogene Ehrenwort eines Ministerpräsidenten allen Ernstes noch einen Skandal wert? Sind Öltanker-Havarien und Giftmüll-Katastrophen wirklich so unvorsehbar, daß wir Grund haben, uns lauthals zu empören? Vor allem aber: Gilt unsere Entrüstung tatsächlich den maroden Verhältnissen, die unter der Oberfläche von Wohlstand und Wohlanständigkeit verborgen sind? Oder echauffieren wir uns bloß darüber, daß die Schwere der Vorfälle uns zwingt, an gesellschaftliche und ökonomische Tabus zu rühren?

In jedem Falle gilt: Der Skandal beschreibt nicht das Fehlverhalten als solches, sondern die Reaktion der öffentlichen Meinung. Und damit kommt dem Skandal auch reinigende Wirkung zu: Wie im Alten Testament die Juden den Ziegenbock in die Wüste schickten, symbolisch beladen mit all ihren Sünden, so braucht unsere Gesellschaft den Skandal und das prominente Skandalopfer, das herhalten muß für die ungezählten heimlichen Verstöße gegen die herrschenden Tabus.

Auch der künstlerische Skandal funktioniert nach diesen Prinzipien: wenn etwa das Publikum sich über die Darstellung von Gewalt und Unterdrückung in der Kunst empört, wo doch das Leben selbst viel gewalttätiger ist; die Buh-Rufe angesichts eines nackten Menschen auf der Bühne, obwohl jede Plakatwerbung aufreizender wirkt; der Protest gegen den infernalischen Krach moderner Musik, während um uns herum der Verkehrslärm tost. Aber im Unterschied zum alttestamentarischen Sündenbock ist der Künstler nicht Opfer, sondern er provoziert den Skandal - sei es aus innerer Notwendigkeit, sei es, weil sein Ruf von einem Skandal langfristig mehr profitiert als von jedem Publikumserfolg.

Seitdem um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Dichter, Maler und Musiker ihre Aufgabe nicht mehr darin sahen, den ästhetischen Normenkatalog zu erfüllen, sondern sie diese Normen fortwährend zu sprengen versuchten, ist der Skandal Ausweis ihrer selbstgewählten Außenseiterrolle. Jedes Buh! im Zuschauerraum, jeder empörte Leserbrief über eine Aufführung oder Ausstellung legitimiert die Arbeit des Künstlers mehr als eine Laudatio im Feuilleton: Denn nur wer sich getroffen fühlt, schreit auf.

Ist aber deswegen schon jedes Buh!, jede Störung eines Konzerts ein Skandal? Als Beethoven seine Pastorale aufführte, soll ein Zuhörer von der Galerie gerufen haben: »Ich gäb' einen Kreuzer, wenn's aufhörte!« Und bei der Uraufführung von Ravels Boléro sind die Menschen angeblich aus dem Konzertsaal geflohen, weil sie Angst hatten, das Orchester-Crescendo würde sich ins Unermeßliche steigern.

Ravel selbst berichtet, eine Dame habe ausgerufen: »Hilfe! ein Verrückter!« und sein Kommentar: »Sie ist die einzige, die mich verstanden hat.« Studiert man allerdings die Konzertkritiken und Zeitungsberichte, so findet sich keinerlei Hinweis auf Publikumsproteste oder Chaos. Im Gegenteil - der Boléro war von Anbeginn ein Erfolg. Merke: Wer keinen Skandal vorweisen kann, erfindet sich einen!

Ob Verstöße gegen die sittlichen oder ästhetischen Normen als Skandal empfunden werden, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie verunsichert und verletzbar die Gesellschaft ist, wie sehr die bestehenden Normen auch im sonstigen politischen und Alltagsleben in Frage gestellt werden. Als Hans Werner Henzes Floß der Medusa 1968 noch vor der Uraufführung von linken Studentengruppen torpediert wurde (über einige denkwürdige Hintergründe weiter unten), hatte die Bundesrepublik ihre ersten innenpolitischen Irritationen hinter sich: die Gründung der APO, Proteste gegen die Notstandsgesetze, Straßendemonstrationen und politisch motivierte Brandanschläge.

Auch die Uraufführung von Bartóks Wunderbarem Mandarin 1926 in Köln fiel in eine Zeit politischer Instabilität, als die Weimarer Republik gleichermaßen von Kommunisten und Nationalsozialisten unter Beschuß genommen wurde. Und die Konzertaufführungen des Schönberg-Kreises, der Pierrot lunaire oder das zweite Streichquartett, führten dem Publikum vor Augen, wie brüchig die Traditionen des 19. Jahrhunderts geworden waren. Nicht die befremdlichen Klänge provozierten letztlich den Skandal, sondern die künstlerische Aussage, die hinter der Musik stand: die Radikalität, mit der die Musiker die bestehenden Normen in Frage stellten.

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