Übersicht Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in:
Die Befreiung der Musik. Eine Einführung in die Musik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von F. X. Ohnesorg. Köln (MusikTriennale/Lübbe) 1994. S. 119-131.

Warum diese Töne?

Skandal und Provokation in der Musik

(3) Der Skandal als l'art pour l'art

G. Antheil: Ballet mécanique

Die zwanziger Jahre, die "Roaring Twenties", waren ein idealer Nährboden für Skandale - in Paris, Berlin und anderswo. Und manche künstlerische Existenz gründete sich vor allem darauf, daß man Tagesgespräch war und in den Klatschspalten der Sensationspresse erwähnt wurde. Will man dem amerikanischen Komponisten George Antheil Glauben schenken (was jedoch nicht unbedingt ratam ist), war dies auch sein Anliegen, als er nach Europa kam. Nicht um die Musik ging es ihm, sondern darum, bekannt zu werden:

Ich war nicht nach Europa gekommen, um Konzertpianist zu werden, ich war herübergekommen um ein Mädchen namens Anne Williams zu suchen. [...] Kurz nachdem wir uns das erstemal gesehen hatten, verliebten wir uns und wollten heiraten. Als Annes Mutter das erfuhr, [...] verschwand Anne. Ihre Mutter auch [...], vermutlich nach Deutschland. [...] Ich wollte als Konzertpianist nach Europa gehen. Das war - wenigstens für mich - der bequemste Weg. Ich hoffte, irgendwann würde Anne von mir Kenntnis nehmen. [13]

So reiste denn Antheil durch Europa, konzertierend und skandalheischend in der Hoffnung, seine Jugendliebe werde sich bei ihm melden. Der Skandal wurde zu Antheils Lebensinhalt, und entsprechend betitelte er seine Autobiographie mit The bad boy of music. Dichtung und Wahrheit, Unwahrscheinliches und Überprüfbares fließen hier derart ineinander, daß die Grenzen kaum mehr auszumachen sind. So reichert er die Schilderung seiner Auftritte als Konzertpianist mit folgender Anekdote an:

[...] Außerdem kaufte ich mir eine kleine automatische Pistole, und als ich in Berlin ankam, ging ich sofort zum Schneider und legte ihm die Skizze eines seidenen Halfters vor, das bequem in die Achselhöhle passen sollte. [...] Von diesem Tage an begleitete mich die Pistole überallhin, besonders zu jedem Konzert. [...] Anfang 1923 spielte ich zum zweiten Mal in Budapest. Einige Wochen zuvor hatte ich bereits in einem Konzert der Budapester Philharmonie gespielt, und es war zu lärmenden Szenen gekommen. [...] Deshalb trat ich nach der Pause an die Rampe des Podiums, verbeugte mich und sagte deutlich: »Türschließer, machen Sie bitte die Türen zu und schließen sie ab!« Als das geschehen war, griff ich nach bewährter amerikanischer Gangsterweise unter meine linke Achsel und holte die häßliche kleine Pistole hervor. Ohne ein weiteres Wort legte ich sie auf meinen Steinway und begann mit dem Konzert. Jeder Ton war zu hören [...] [14]

Während über diese Pistolen-Geschichte niemand sonst, kein Kritiker und kein Konzertbesucher, ein Wort verliert, ist die skurril-chaotische Uraufführung des Ballet Mécanique in der Pariser Wohnung einer reichen Amerikanerin von mehreren Seiten belegt:

Nach meiner Erinnerung war das große Haus nicht nur mit weiß behandschuhten Dienern, mit Gästen, Speisen und herrlichem Champagner gefüllt, sondern zudem noch mit Konzertflügeln; die Flügel hingen buchstäblich an der Decke. Das Ballet Mécanique ist nämlich für acht Klavier instrumentiert - von den Xylophonen, dem Schlagzeug und allem übrigen ganz zu schweigen. [...] Natürlich blieb bei einem solchen Orchester kaum noch Raum für die Gäste - das war ein Versehen unsererseits. Die acht Flügeln füllten den riesigen Wohnraum völlig aus und ließen nicht einen Daumen breit Platz. Deshalb wurden Xylophon und sonstige Schlaginstrumente im Nebenzimmer und auf der ungeheuren Treppe aufgebaut. Wladimir Golschmann, der dirigierte, stand auf dem mittelsten Flügel. Und nun stellen Sie sich in diesem absolut überfüllten Haus noch zweihundert Gäste vor! In jedem Loch und Eckchen zwischen den Flügeln stand ein Gast. Ich glaube, mehrere hingen sogar an den Kronleuchtern - darunter aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Herzogin von Clermont-Tonnerre; sie war ja eine solche Kunstschwärmerin! Ach so, und dazu kommt noch, daß es Sommer und ultraheiß war. [...] Beim ersten Akkord des Ballet mécanique flog beinahe das Dach vom Haus! Und bei der gigantischen Erschütterung fiel eine Unzahl von Personen um! Die übrigen Gäste wanden sich wie lebendige Sardinen in einer Büchse; die Klaviere unter, über oder neben ihren Ohren dröhnten mächtig und in einer fremdartigen Synchronisierung. Am Ende dieses überaus schweißtreibenden Konzerts wurde Champagner in großen Mengen serviert; die Leute waren sehr durstig, wenn nicht zu sagen: erschüttert und zerrüttet. [15]

Die Buchhändlerin (und Verlegerin von James Joyces "Ulysses") Sylvia Beach schreibt in ihren Erinnerungen über jenes Konzert:

Die Wirkung des Ballet Mécanique auf das Publikum war merkwürdig. In dem Geschrei, das sich im ganzen Haus auf allen Seiten erhob, ging die Musik völlig unter. Gegnern im Parkett antworteten Verteidiger von oben, man hörte Ezras [der Schriftsteller Ezra Pound; Anm. d. Verf.] Stimme sich über alle anderen erheben, und jemand erzählte, daß man ihn mit dem Kopf nach unten von der vierten Galerie hatte hängen sehen. Man sah auch Leute, die einander ins Gesicht boxten, man hörte das Gejohle, aber nicht einen Ton vom Ballet Mécanique, das, nach den Bewegungen der Ausführenden zu schließen, die ganze Zeit über weiterging. Aber die Wut der Leute legte sich, plötzlich, als die in der Partitur vorgeschriebenen Flugzeugpropeller zu surren begannen und ein Luftzug entstand, der, wie Stuart Gilbert erzählte, dem Mann neben ihm die Perücke vom Kopf blies und sie bis in die hinterste Reihe wirbelte. Die Männer stellten ihre Rockkrägen auf, und die Frauen wickelten sich in ihre Hüllen, es war richtig kalt. [16]

Mittlerweile wirkt das Ballet Mécanique mit seinen zehn Klavieren, mit Schlagzeug, Flugzeugpropellern und elektrischen Türklingeln vergleichsweise harmlos. Damals hingegen, in den Jahren 1923/24, mag der maschinenhafte "Bruitismus", die ostinatohafte Wiederholung und dynamische Aufdringlichkeit noch Angst und Schrecken erzeugt haben. Aber schon Ravels Boléro, der mit ähnlichen konstruktiven Mitteln gearbeitet ist, wurde 1928 vom Publikum begeistert aufgenommen. So schnell ändert sich der Geschmack!

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